16. Mai 2012

Lebendiger Nord-Sued-Gegensatz

Seit die deutsche Außenpolitik unter Hans-Dietrich Genscher die zunehmende Tendenz der Differenzierung des Südens entdeckt (und herbeigewünscht) hat, lautet der wohl wohlfeilste Topos einer ganz breiten Gemeinde, der Nord-Süd-Gegensatz sei „verdampft“ und gehöre der Geschichte an. Die Anhänger dieser schönen (und beruhigenden) These müssten sich in diesen Tagen und Wochen eigentlich eines Besseren belehren lassen.

Schon auf der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank wartete der Süden unter Führung der großen Schwellenländer mit dem kraftvollen Anspruch auf mehr Mitsprache und Beteiligung in den traditionell vom Norden bzw. Westen beherrschten Bretton-Woods-Institutionen auf. Zur Wahl des Weltbank-Präsidenten, der demnächst sein Amt antritt, präsentierten die Entwicklungsländer erstmals zwei überzeugende Gegenkandidaten. Sie konnten sich nicht durchsetzen, doch die Konstellation war klar: Der Norden verteidigt seine überkommenen Privilegien, und der Süden will die vorherrschenden Asymmetrien nicht länger einfach so hinnehmen.

Ein neu auflebender und lebendiger Nord-Süd-Gegensatz strukturiert auch andere Großereignisse, die derzeit stattfinden. Die Kontroversen im Vorbereitungsprozess auf Rio+20 verlaufen wesentlich entlang von Nord-Süd-Spaltungen (sei es beim Finanz- und Technologietransfer oder bei der Green Economy), wenngleich es auch Bereiche gibt, in denen der Süden gespalten ist (>>> Der Countdown läuft:Nachsitzen für Rio+20 oder >>>Die Nord-Süd-Gegensätze vor Rio+20). Auch der kommende G20-Gipfel – dort ist der Süden zwar nur in Form der wirtschaftlich stärksten Länder vertreten und der Rest ausgeschlossen – könnte stärker von Interessengegensätzen gekennzeichnet sein als die ersten Ausgaben, mit „Währungskriegen“, neuen regionalen Verteidigungslinien (seit kurzem hat beispielsweise Asien seinen eigenen IWF) oder dem Streit darüber, in welchem Ausmaß Europa auf die IWF-Ressourcen zugreifen kann, ohne seine eigenen Hausaufgaben zu machen.

Ein Nord-Süd-Gegensatz besonderer Schärfe, die viele im Süden an einen „neuen Neokolonialismus“ erinnerte, flackerte im Vorfeld und auf der letzten UNCTAD-Konferenz in Doha auf (>>>UNCTAD XIII: Seltener Sieg). Dort ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob der Süden Anspruch auf ein internationales Forum (in diesem Fall eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen) hat, das traditionell als Plattform der Interessenartikulation des Südens gilt. Das war zweifellos nicht der traditionelle Nord-Süd-Konflikt der 1970er Jahre, als der Süden den Norden mit dem Slogan einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ angriff. Vielmehr äußerte sich in der Attacke des Nordens auf das Mandat von UNCTAD der Versuch, das in der Finanzkrise  schwer ramponierte Deutungsmonopol der beiden westlich dominierten Finanzinstitutionen wiederherzustellen (s. die vorigen Einträge in diesem Blog).

Das war freilich nicht nur eine Frage von Nord gegen Süd, sondern richtete sich gegen die Interessen vieler Menschen überall auf der Welt, wie die indische Ökonomin Jayati Ghosh schrieb. Doch dass sich in Doha letztlich auch die BRICS und andere Schwellenländer für die Bekräftigung des bisherigen UNCTAD-Mandats engagierten, ist ein Glücksfall und ein Beispiel dafür, dass eine einheitliche Front des Südens in vielen Fragen auch heute noch nicht nur wünschenswert, sondern möglich ist. Es bedarf dafür allerdings auch im Süden des Interessenausgleichs. Der Nord-Süd-Gegensatz ist kein altmodisches Hirngespinst, sondern eine sich wandelnde Realität.

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