19. Dezember 2011

WTO-Ministerial: Langweilig trotz tiefer Differenzen

Die 8. Ministertagung der WTO Ende letzter Woche in Genf ging ohne die sonst üblichen Spannungen und Auseinandersetzungen über die Bühne. Das hängt damit zusammen, dass diesmal von vorneherein auf die Aushandlung einer Abschlusserklärung verzichtet wurde (>>> Ein Begräbnis dritter Klasse). Die Veranstaltung war so unspektakulär, dass selbst NGOs – die sonst voller Argwohn nach Genf blickten – begannen, den „drohenden Bedeutungsverlust der Welthandelsorganisation“ zu beklagen. Doch hinter der entspannten Atmosphäre verbergen sich nach wie vor tiefe Gegensätze, wie Martin Khor vom Konferenzort berichtet:

„Alle bekunden immer noch ihr Bekenntnis zum Abschluss der Doha-Runde. Während die meisten sie auf der Basis der Texte zu landwirtschaftlichen und industriellen Gütern vom Dezember 2008 abschließen möchten, wollen die USA, dass die großen Entwicklungsländer ihre Märkte viel stärker öffnen, was diese nicht fair finden.

Die meisten Industrieländer haben ein neues Herangehen an die Doha-Runde vorgeschlagen, bei dem Verhandlungen auf einer plurilateralen Basis (die nur die willigen Mitglieder einbezieht) geführt werden sollen. Aber dies wurde von rund 100 Entwicklungsländern förmlich zurückgewiesen, die in einem Statement (>>> The Friends of Development Declaration) zum Ausdruck brachten, dass dies gegen die Prinzipien des Multilateralismus und der Inklusion verstoßen würde.

Ein anderer Vorschlag läuft auf eine „Early harvest“ („frühe Ernte“) hinaus, anstatt auf eine Übereinkunft in allen Fragen zu warten. Obwohl viele Länder dafür offen sind, besteht keine Übereinstimmung darüber, was denn „früh geerntet“ werden soll. Vor ein paar Monaten wurde schon die bloße Ankündigung, eine early harvest auf dem Ministrial anzukündigen, abgelehnt.

Fast alle Mitglieder stimmten darin überein, dass es ein „Paket“ für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sein sollte, so dass Doha wenigstens für die ärmsten Mitglieder Ergebnisse liefern würde. Doch zwei Kernpunkte (zollfreier Marktzugang für LDC-Produkte und der Abbau der Baumwollsubventionen) waren für die USA nicht akzeptabel.

Nächstes Jahr, wenn die Doha-Verhandlungen wieder aufgenommen werden, wollen die Industrieländer einen Vertrag über Handelserleichterungen als early harvest durchsetzen. Doch die meisten Entwicklungsländer bestehen darauf, dass jegliche „frühe Ernte“ die entwicklungspolitischen Fragen beinhalten solle, einschließlich einem LDC-Paket, einer erweiterten besonderen und differenzierten Behandlung, eine Lösung der Umsetzungsprobleme der bisherigen WTO-Abkommen und einer Reduzierung der Agrarsubventionen.

Eine ebenso tiefe Spaltung gibt es in Bezug auf Fragen, die kein Bestandteil der Doha-Agenda (mehr) sind. Die Industrieländer wollen Diskussionen über neue Issues beginnen, die möglicherweise zu neuen Regeln führen. Dazu gehören Investitionen und Wettbewerb (die bereits jahrelang diskutiert, dann aber 2004 von der Doha-Agenda genommen wurden), Klimawandel, Energie- und Ernährungssicherheit. Gleichwohl ist die Mehrheit der Entwicklungsländer gegen die Top-down-Einführung neuer Issues. Die Deklaration der Friends of Development betont, dass alle handelsbezogenen Fragen in Übereinstimmung mit den Prozessen und Konsensverfahren in den geeigneten WTO-Einrichtungen diskutiert werden sollten.

Viele glauben, dass die Einführung neuer Issues von den entwicklungspolitischen Komponenten der Doha-Agenda ablenken würde und daher nicht im Interesse der Entwicklungsländer wäre. Stattdessen schlagen die Entwicklungsländer vor, die entwicklungspolitischen Aspekte der WTO voranzubringen, einschließlich der Stärkung des WTO-Ausschusses für Handel und Entwicklung und einer entwicklungspolitischen Überprüfung der WTO-Bestimmungen für besondere und differenzierte Behandlung.

So werden Differenzen und Spannungen wieder auftauchen, wenn die WTO im nächsten Jahr ihre Arbeit wieder aufnimmt.“


Martin Kohr ist Direktor des South Centre in Genf.

17. Dezember 2011

De Schutter an Lamy: Die WTO und die Schlachten der Vergangenheit

Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, hat in einer Replik auf den Offenen Brief von WTO-Generaldirektor Lamy (>>> Lamy vs. De Schutter) dessen Einladung zur Diskussion mit den Mitgliedern der WTO begrüßt, betont jedoch, jede Debatte müsse von korrekten Prämissen ausgehen. „Die Prämisse“, so De Schutter, „muss die Gefahren einer exzessiven Handelsabhängigkeit für die armen Länder anerkennen. Auch müssen wir die Vereinbarkeit der WTO-Regeln und der Doha-Agenda mit der Agenda der Ernährungssicherheit überprüfen. Ohne eine solche grundlegende Überprüfung werden wir weiterhin von einem Nahrungsmittelsystem abhängen, in dem die Ernährung der Defizitregionen auf den effizientesten Produzenten mit den größten economies of scale ruht und in dem die Kluft nur noch größer wird.“

De Schutter weist darauf hin, dass die Nahrungsmittelrechnung der ärmsten Länder (LDCs) zwischen 1992 und 2008 um das fünf- bis sechsfache angestiegen ist. 25% ihres Nahrungsmittelverbrauchs müsse inzwischen importiert werden. Hinzu kämen die chronisch volatilen Preisbewegungen. Allein in diesem Jahr seien die Nahrungsmittelrechnungen der LDCs um ein Drittel nach oben geschnellt. De Schutter: „Leider funktionieren die von Herrn Lamy geforderten offenen Märkte nicht so perfekt wie er gerne denken würde.“ Der gegenwärtig vorherrschende „handelszentrierte Ansatz“ würde daran nichts ändern.

„Langfristig wird den netto-nahrungsmittelimportierenden Ländern nicht dadurch geholfen, dass man sie ernährt, sondern dadurch dass sie in die Lage kommen, sich selbst zu ernähren. Dies ist der Konsens in der Welt nach der globalen Nahrungsmittelpreiskrise, den selbst die G20 anerkannt haben. Es ist enttäuschend, dass die WTO weiterhin die Schlachten der Vergangenheit schlägt“, so De Schutter.

* Die komplette Stellungnahme De Schutters findet sich >>> hier.

16. Dezember 2011

Globale Konjunktur: Vorsorgliche Warnungen am Abgrund

Die Fehlprognosen aus der Zeit vor der globalen Finanzkrise müssen dem IWF und anderen arrivierten internationalen Wirtschaftsinstitutionen noch schwer im Magen liegen. Wie sonst wären die scharfen Warnungen, die sich gelegentlich sogar zum Alarmismus steigern, zu erklären? Die Geschäftsführende Direktorin des IWF, Christine Lagarde, hat die globale Konjunkturlage jetzt sogar mit der Situation am Vorabend der Großen Depression der 30er Jahre verglichen. Schon im Spätsommer hat sie davon gesprochen, dass die Weltwirtschaft in „eine neue, gefährliche Phase“ eingetreten ist. Zwischenzeitlich hat sie der Weltwirtschaft „ein verlorenes Jahrzehnt“ – wie in Lateinamerika in den 80er Jahren – vorausgesagt.

Kein verantwortungsbewusster Ökonom oder Wirtschaftspolitiker nimmt solche Begriffe ohne stichhaltigen Grund in den Mund. Und folglich herrscht seither allgemein erhöhte Alarmstimmung im globalen Wirtschafts- und Finanzsystem. Doch die Alarmierten agieren wie Hausbesitzer in einem brennenden Haus, die darüber diskutieren, welche Vorkehrungen getroffen werden könnten, um künftige Brände zu verhindern. Dabei haben die Möchtegern-Feuerwehrleute – sei es in der G20 oder der EU – noch nicht einmal jene Sicherheitslücken korrekt identifiziert, die zu der aktuellen Krise führten. Denn ursächlich hierfür waren ja nicht die Überschuldung der Regierungen, sondern die Überschuldung, das blasengetriebene Wachstum und andere Exzesse des privaten Sektors.

Im Zentrum der neuen Hintergrund-Ausgabe von W&E (>>> W&E-Hintergrund Januar 2012; s. Abbildung) stehen jedoch nicht die Reformen, die notwendig sind, um die Deregulierungsorgie der letzten Jahrzehnte rückgängig zu machen und den Finanzmärkten einen neuen Ordnungsrahmen zu geben, sondern das aktuelle Feuer selbst, d.h. die konjunkturellen Schieflage. Ich selbst habe die jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen ausgewertet, die die Weltwirtschaft am Abgrund einer neuen Rezession zeigen. Dieter Boris hat sich die jüngsten Studien zur wirtschaftlichen Lage in Lateinamerika angesehen und kommt zu dem Schluss, dass derzeit kein weiteres „verlorenes Jahrzehnt“ droht, da das Überspringen weltweiter Krisen auf Lateinamerika nicht mehr ganz so automatisch erfolgt, wie in früheren Krisenperioden. Keine ganz schlechte Nachricht also inmitten einer düsteren Globalperspektive.

Lamy vs. De Schutter: WTO contra Nahrungssicherheit

Rechtzeitig vor Beginn des derzeit tagenden Ministertreffens der WTO in Genf hat der Generaldirektor der Organisation, Pascal Lamy, auf einen Report des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, reagiert, in dem dieser fordert, die WTO solle das Menschenrecht auf angemessene Ernährung an die Spitze ihrer Agenda setzen (>>> The World Trade Organisation and the Post-Global Food Crisis Agenda). In dem Bericht räumt De Schutter zwar ein, dass die WTO in Bezug auf Ausnahmeregelungen zwar flexibler geworden sei, kritisiert aber, dass ihre Regeln den Entwicklungsländern immer noch zu wenig Spielraum ließen, um Maßnahmen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit zu ergreifen. Dazu zählen etwa höhere Zölle, zeitweilige Importrestriktionen, staatliche Aufkaufgarantien für Kleinbauern, aktive Vermarktungsbehörden etc.

„Selbst wenn solche Politiken nicht verboten sind,“ so De Schutter, „werden sie (die Entwicklungsländer) durch die Komplexität der (WTO-)Regeln und die Androhung rechtlicher Schritte entmutigt.“ Die derzeitigen Versuche, beispielsweise in Afrika Nahrungsmittelreserven aufzubauen, müssten peinlich genau das Regelwerk der WTO beachten. Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Dieses Regelwerk sollte entlang des Menschenrechts auf Nahrung aufgebaut sein und nicht umgekehrt. Doch „die WTO verfolgt weiterhin das altmodische Ziel der Steigerung des Handels um seiner selbst willen, statt mehr Handel nur insoweit zu ermutigen, wie er der Steigerung des menschlichen Wohlergehens dient“.

Das Antwortschreiben des WTO-Direktors an den „dear Professor De Schutter“ liest sich wie eine ausgewogene Mischung aus Zurückweisung und Beschwichtigung. Einerseits erweckt Lamy den Eindruck, die Debatte des Themas in der WTO und anderen etablierten Institutionen sei auf dem besten Weg. Andererseits widerspricht er scharf der These, Länder müssten ihre Abhängigkeit vom internationalen Handel (mit Agrargütern) begrenzen, um das Ziel der Ernährungssicherheit zu erreichen. Einerseits betont auch Lamy, dass die internationale Governance im Sinne von mehr Ernährungssicherheit verbessert werden müsse. Andererseits holt er gegen De Schutter die übliche Protektionismuskeule auf der Tasche und unterstellt ihm die Unterminierung ökonomischer Effizienz und die Verzerrung von Marktstrukturen. Als ob nicht gerade andersherum ein Schuh draus wird: „Wenn die Doha-Runde Fortschritte machen will, dann muss sie alle politischen Zwänge aufheben, die dem Recht auf Nahrung im Wege stehen und Maßnahmen für seine Gewährleistung zulassen, etwa Nahrungsmittellager, die auf die Reduktion der Preisvolatilität und die Sicherung des Zugangs zu adäquaten Nahrungsmitteln auf lokaler Ebene zielen.“ – Leider steht nicht zu erwarten, dass die WTO dazu auf absehbare Zeit einen Beitrag leistet.

13. Dezember 2011

Cannes, Durban, Bruessel, Genf: Endstation Doha-Runde?

Später in dieser Woche findet in Genf das 8. Ministertreffen der WTO statt (15.-17.12). Es wird mit Sicherheit das trostloseste Ereignis in der Kette von Gipfeltreffen der letzten Wochen. Während der G20-Gipfel in Cannes immerhin noch Trippelschritte verzeichnete, wenn er auch den erforderlichen großen Wurf vermissen ließ (>>> Trippelschritte statt großer Wurf), und die Staatschefs der EU in Brüssel einen gewaltigen Sprung in die falsche Richtung machten (>>> Merkozy auf der Titanic: Volldampf voraus!), einigte sich die Klimakonferenz doch noch auf neue Verhandlungen, schob damit die Lösung der Probleme allerdings weit in die Zukunft hinaus (>>> Durban: Gerechtigkeit zurück auf der Agenda?).

Das Genfer WTO-Ministerial hingegen wird höchstwahrscheinlich nicht einmal eine weitere Verhandlungsperspektive aufzeigen können, sondern darüber feilschen, on die jetzt zehnjährige Doha-Runde ein Begräbnis dritter Klasse bekommt oder weiterhin lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden (>>> Doha-Runde: Ein Begräbnis dritter Klasse?). Das einzige, worin die Verhandlungspartner in der WTO derzeit übereinstimmen, ist die Ansicht, dass sich die Doha-Runde in der Sackgasse befindet. Nur als erster offiziell aussprechen, möchte das aus Angst vor dem Schwarzen Peter kaum einer. Deshalb werden sie sich schwer tun, den Patienten für tot zu erklären, so der EU-Handelskommissar Karel De Gucht kürzlich: „Doha wird nicht für tot erklärt werden, weil wir einer der Ärzte sind und nicht bereit dazu sind.“ Fragt sich, was dann die weitere Perspektive sein soll.

Die WTO wird in Genf vielleicht einige Schlagzeilen mittlerer Bedeutung produzieren. So jährt sich die Neuaufnahme Chinas heuer zum zehnten Mal. Zugleich wird mit Russland die letzte größere Wirtschaftsmacht in den Kreis der WTO-Mitglieder aufgenommen. Die Bilanz der Anti-Dumping-Politik der WTO ist nicht einmal so schlecht: Von den Streitschlichtungsverfahren profitierten auch Entwicklungsländer, vor allem größere und wirtschaftlich fortgeschrittenere. Was sich jedoch deutlich in den letzten zehn Jahren gezeigt hat: Die WTO eignet sich nicht (mehr), um dem Süden eine Agenda aufzuzwingen, die dieser nicht will. Das war eigentlich schon in Cancún 2004 klar, als die Punkte Investitionssicherheit, Wettbewerbsrecht und regierungsamtliche Auftragsvergabe von der Tagesordnung gekippt wurden. Übrig blieben die Frage der Agrarsubventionen, der Handel mit Industriegütern und die Dienstleistungen. Auf allen drei Gebieten sind die Verhandlungen blockiert, weil die Industrieländer überall weitreichende Liberalisierungen wollen, die Entwicklungsländer aber auf dem Abbau von Agrarsubventionen und Schutzrechten für ihre jungen Industrien bestehen. In puncto Dienstleistungen kommt es wahrscheinlich zu einer Reihe plurilateraler Abmachungen der Industrieländer untereinander. – Ein Beinbruch ist diese Entwicklung nicht – geben doch inzwischen selbst Weltbank-Vertreter zu, dass die einstmals prophezeiten Wohlfahrtsgewinne aus Liberalisierungsschüben heillos übertrieben waren. Und so wird sich auch deshalb diese Runde auf dem Krankenbett nicht heilen lassen.

7. Dezember 2011

Rating-Agenturen: Jetzt reicht es eigentlich

Jetzt rächt sich, dass die Politiker über die Rating-Agenturen zwar viel geschimpft haben, es aber bislang weder in der G20 noch im nationalen oder regionalen Rahmen vermochten, wirksame Maßnahmen zu ihrer Zerschlagung oder wenigstens zu ihrer strikten Regulierung und Kontrolle zu treffen. Selbst der agile Binnenmarkt-Kommissar der EU, Michel Barnier, wurde von der Europäischen Kommission zurückgepfiffen mit seinem Versuch, den Agenturen das Rating während laufender Rettungsaktionen zu untersagen. Der jüngste Angriff von Standard & Poors auf die Eurozonen-Staaten, einschließlich die Europäische Fazilität für Finanzstabilität (EFSF), hätte so vielleicht unterbunden werden können.

Mit Eingriffen in die Meinungsfreiheit, wie einige Klopffechter der Finanzmärkte sofort einwandten, hätten solche Maßnahmen nichts zu tun. Schließlich stören diese Ratings massiv die wirtschaftlichen Abläufe. Der Präsident der französischen Zentralbank, Christian Noyer, brachte es gestern auf den Punkt: „Die Rating-Agenturen waren einer der Motoren der Krise von 2008“, sagte er. Und: „Man kann die Frage stellen, ob sie diese Rolle nicht erneut spielen.“

Man kann die Frage getrost mit Ja beantworten. Denn selbst wenn einige Politiker in Berlin darauf spekulieren mögen, dass die drohende Herabstufung der Bonität der Kernländer der Eurozone den Druck auf die Durchsetzung des neuen Krisenpakets von Merkozy auf dem bevorstehenden EU-Gipfel verstärkt, so hätte dieser Austeritätspakt vor allem eine Wirkung: Er würde die Spielräume zu aktiver Konjunkturpolitik weiter einengen und die sich abzeichnende Rezession in der Eurozone weiter verstärken. Dies böte den Rating-Agenturen erneut Zündstoff für eine weitere Herabstufung der Bonität. Und so weiter und so fort.

Das ist keine Schwarzmalerei, sondern die exakte Beschreibung des sich selbst verstärkenden Treibens der Agenturen. Wie bei ihrem jüngsten Anschlag auf die Eurozone führen sie beispielsweise die steigenden Zinsaufschläge auf Staatsanleihen oder das steigende Rezessionsrisiko als Grund für die mögliche Absenkung ihrer Bonitätsnoten an – mit der todsicheren Folge, dass die Zinsaufschläge weiter steigen und die Krise sich verschärft, wenn die Absenkung dann wirklich kommt. Die Politiker hätten die Macht, diesem Kalkül einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch ist es leider so, wie die indische VWL-Professorin Jayati Ghosh in der jüngsten Ausgabe von E+Z schreibt: „Anstatt die Finanzwelt endlich zu regulieren, haben die G20 sich als deren Diener erwiesen.“ Es ist nicht zu erwarten, dass der EU-Gipfel morgen und übermorgen ein anderes Urteil zulassen wird.

Klima wandelt Migration

6. Dezember 2011

Busan-Deklaration: Mehr Prinzipien als Konkretes

Gastkommentar von Ska Keller, MdEP

Nach Monterrey, Paris und Accra war Busan in Südkorea der 4. Austragungsort für eine internationale Konferenz mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern. Nachdem in Monterrey Grundsteine gelegt wurden, in Paris die Grundprinzipien erstellt wurden und es in Accra um einen Aktionsplan ging, war das erklärte Ziel von Busan, die großen Schwellenländer mit an den Tisch zu bekommen; allen voran China. Nach vielem Hin und Her, und nachdem sich China mindestens zwei Mal vom Verhandlungstisch verabschiedet hatte, ist das dann auch gelungen.

Allerdings hat diese Inklusion auch ihren Preis: Auf Drängen Chinas wird im 2. Absatz festgehalten, dass die Verpflichtungen und Ziele, die mit Busan entstehen, für Länder des Südens, also auch für Schwellenländer, freiwillig sind. Überhaupt steht in dem Abschlussdokument auf 12 Seiten wenig Konkretes. Es geht mehr um Prinzipien und Grundsätze. Details und konkrete Indikatoren, mit denen Fortschritte gemessen werden können, sollen bis Juni 2012 erarbeitet werden. Für die Umsetzung der Aufgaben haben die Staats- und RegierungschefInnen gleich eine neue globale Struktur geschaffen.

Die Zersplitterung der internationalen Organisationen wurde schon in den Eröffnungsreden kritisiert - aber anstatt eine vorhandene Struktur zu nutzen, soll eine "Globale Partnerschaft für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit" aufgebaut werden. In deren Rahmen soll die Rechenschaft über den erreichten Fortschritt erfolgen. Die OECD-Arbeitsgruppe, die bisher dafür zuständig war, das Thema zwischen den Konferenzen am Leben zu erhalten, wird aufgelöst.

Insgesamt gibt es einige positive Elemente im Schlussdokument. Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung wird ebenso angemahnt wie die Einhaltung der Pariser Prinzipien, Eigenverantwortung, Harmonisierung, Partnerausrichtung, Ergebnisorientierung sowie gegenseitige Rechenschaftspflicht. Auch wird die Einhaltung des 0,7%-Ziels angemahnt. Ebenfalls sehr positiv ist ein Absatz, der erst in letzter Minute noch in den Text hinein verhandelt wurde und der die Staaten auffordert, NGOs bei ihrer Arbeit nicht zu behindern, sondern im Gegenteil zu fördern.

Ganz oben auf der Negativ-Liste steht der Fokus auf Wachstum und die Privatwirtschaft. Klar braucht man Wachstum, um mehr Menschen aus der Armut zu holen, aber Wachstum ist eben ein Werkzeug und nicht das Ziel. Zudem hilft nicht jede Art von Wachstum: Wenn nur die Reichen reicher werden, trägt das zwar zum Bruttosozialprodukt bei, aber eben nicht zur Armutsbekämpfung. Das Abschlussdokument fordert zudem die Staaten auf, privatwirtschaftliche Akteure an der Erarbeitung und Umsetzung von Entwicklungsstrategien zu beteiligen. Was auf lokaler Ebene durchaus Sinn machen kann, wird extrem gefährlich, wenn, wie bisher, bei der Ausgestaltung zum Beispiel von Freihandelsabkommen interessierte Wirtschaftsleute zu Rate gezogen werden, Zivilgesellschaft, Parlamente und Bevölkerung aber im Dunkeln bleiben. – In jedem Fall wird der Erfolg der Busan-Erklärung davon abhängen, wie wirksam die Beschlüsse umgesetzt werden – und dafür braucht es in jedem Fall die Beteiligung der Parlamente und zivilgesellschaftlicher Organisationen.

2. Dezember 2011

Wird aus dem Green Climate Fund ein Greedy Corporate Fund?

In dieser Woche haben 163 zivilgesellschaftliche Organisationen aus 39 Ländern auf der Klimakonferenz in Durban einen Offenen Brief veröffentlicht, der die Versuche der USA, Großbritanniens und Japans verurteilt, den Grünen Klimafonds in einen „Fonds für gierige Konzerne“ („Greedy Corporate Fund“) zu verwandeln. Wörtlich heißt es in dem Brief:

Wir sind besorgt, dass aus dem Grünen Klimafonds ein Greedy Corporate Fund werden, der den Interessen der Konzerne und des Finanzsektors dient, statt Aktivitäten zur Rettung des Planeten und zum Schutz der Armen in den Entwicklungsländern zu finanzieren. Wir haben besondere Bedenken gegen Vorschläge zur Errichtung einer Privatsektorfazilität im Rahmen des Grünen Klimafonds (GCF), die multinationalen Konzernen direkten Zugang zu GCF-Finanzen für Aktivitäten in Entwicklungsländern unter Umgehung von deren Regierungen verschaffen könnte.

Wir glauben, dass die Rolle des Privatsektors im GCF auf nationaler und subnationaler Ebene in Übereinstimmungen mit den Präferenzen und Bedürfnissen der Länder und nicht der Konzernvorgaben entschieden, geregelt und angeregt werden muss. Wir sind daher schärfstens dagegen, dass irgendwelche Ressourcen des Grünen Klimafonds direkt an den Privatsektor fließen, vor allem nicht über die Errichtung einer Privatsektor-Fazilität.

Ein effektiver grüner Klimafonds muss die Menschen in den Entwicklungsländern dabei unterstützen, sowohl im öffentlichen als auch privaten Sektor den Klimawandel zu bekämpfen. Deshalb erwarten wir, dass der GCF zu einer nachhaltigen und vitalen wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort beiträgt. Die Aufgabe des GCFs ist es nicht, multilaterale Konzerne oder Finanzinstitutionen zu subventionieren. Dennoch heißt es gegenwärtig im Abschlussbericht des Transitional Committee zur Ausgestaltung des Grünen Klimafonds an die Konferenz der Vertragsstaaten, dass der Fonds genau das tun könnte: „Der Fonds wird eine Privatsektor-Fazilität bekommen, die ihn befähigt, direkt und indirekt Aktivitäten des Privatsektors für die Minderung des Klimawandels und Anpassung auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene zu finanzieren. (Beispielsweise flossen zwischen 2008 und 2010 63% aller Investitionen der International Finance Corporation in Ländern mit niedrigem Einkommen über multinationale Konzerne aus OECD-Ländern.)

Wenige Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern werden attraktiv genug sein, um Privatkapital anzuziehen, da sie nicht ertragreich genug sind. Einige Minderungsprogramme, einschließlich von Anstrengungen zur Erleichterung des Energiezugangs für die Armen, dürften finanziell auch nicht lukrativ sein. Doch es sind Investitionen in diese öffentlichen Güter, auf die sich der GCF konzentrieren muss. Eine Privatsektor-Fazilität könnte stattdessen zur Umlenkung knapper Klimafinanzen weg von Investitionen in öffentliche Güte und hin zur Subventionierung profitabler Bestrebungen des Privatsektors führen.

Desweiteren sollte vermieden werden, den Grünen Klimafonds mit den Kohlenstoffmärkten und anderen riskanten Finanzinstrumenten zu verknüpfen. Beispielsweise wurden die Kohlenstoff-Derivatemärkte von Markt- und Umweltskandalen heimgesucht und haben auch keine Preisstabilität gewährleistet. Vielmehr waren die Kohlenstoffpreise extrem volatil und zuletzt sehr niedrig. Eine Privatsektor-Fazilität würde in Verknüpfung mit diesen Märkten keinen verlässlichen Fluss an Finanzmitteln für Anpassung und Klimaschutzminderung in den Entwicklungsländern bringen. Außerdem müssen nach der UN-Klimakonvention Finanzmittel in Form von Zuschüssen und konzessionären Darlehen zur Verfügung gestellt werden.


* Der Originalwortlaut und die Liste der Unterzeichner können >>> hier eingesehen werden.

1. Dezember 2011

Aid Effectiveness in Busan: Masslos unglaubwuerdig

Ein weiterer Zacken ist aus der Glaubwürdigkeitskrone der westlichen Aid-Effectiveness-Strategie gebrochen. Auf dem 4. Hochrangigen Treffen zur Wirksamkeit der Entwicklungshilfe in Busan/Südkorea warnte US-Außenministerin Clinton die Entwicklungsländer vor „Gebern, die mehr an der Ausbeutung Eurer Ressourcen als an der Ausbildung Eurer Fähigkeiten interessiert sind“. Die Länder des Südens sollten als „smart shoppers“ (kluge Käufer) auftreten, wenn sie Hilfe von China und anderen „neuen Gebern“ annehmen.

Die Einlassung der US-Außenministerin ist gleich mehrfach unglaubwürdig: Der Fingerzeig auf die Rohstoffinteressen der neuen Geber hat zwar den Charme der traditionellen Neokolonialismus-Kritik, fällt jedoch direkt auf die Füße der „alten Geber“ zurück. Das Auftreten der neuen Geber ist vielleicht der einzige Lichtblick der entwicklungspolitischen Szenerie der letzten Jahre: Er macht es für die ärmeren Länder des Globus erst möglich, klug zwischen verschiedenen Gebern auszuwählen, und vergrößert somit ihren Politikspielraum. In diesem Zusammenhang von „Shoppen“ zu reden, enthüllt, wie sehr der größte westliche Geber (und fast ein Schlusslicht, gemessen am eigenen Bruttonationaleinkommen - BNE) entwicklungspolitische Beziehungen immer noch als Geschäft ansieht.

Die anderen westlichen „Geber“ sind nicht besser. Rechtzeitig zur Busan-Konferenz hat der Deutsche Bundestag den Haushalt für 2012 verabschiedet und damit – nicht nur nach Auffassung des NGO-Dachverbands Venro – seine letzte Chance vertan, das 0,7%-Ziel zu erreichen. Zwar erhöht sich mit diesem Haushalt der BMZ-Etat um 163,79 Mio. € auf 6,38 Mrd. im Vergleich zu 2011. Internationale Zusagen, so eben die Anhebung des Anteils der Entwicklungshilfe am BNE auf 0,7% bis zum Jahr 2015, sind so allerdings nicht zu erreichen. Damit erweist sich auch der entwicklungspolitische Konsens, den mehr als 365 Abgeordnete fraktionsübergreifend unterzeichnet haben, als wirkungslos. Die Unterzeichner sprachen sich für eine Erhöhung des Entwicklungsetats um 1,2 Mrd. € aus. Die stellvertretende Venro-Vorsitzende Christa Randzio-Plath ist deshalb „maßlos enttäuscht“. Recht hat sie.

Man könnte freilich auch die Frage aufwerfen, ob der ganze Wirksamkeitsdiskurs nicht zur gefälligen Kulisse für die Kürzungsorgie degeneriert, die uns in den nächsten Jahren erst noch bevorsteht. Gerade kürzlich hat Jomo Kwame Sundaram, der Stellvertretende UN-Generalsekretär für wirtschaftliche Entwicklung, noch einmal davor gewarnt, die gesammelten Hilfeversprechen der letzten Jahre dem Druck der Krise zu opfern. Er sieht die Entwicklungszusammenarbeit schlicht „im Belagerungszustand“.