6. Oktober 2014

Vor der Jahrestagung von IWF und Weltbank: Kassandra hat Recht

Für Kassandrarufe ist die Geschäftsführende Direktorin des IWF, Christine Lagarde, immer gut. Während ein Teil des Mainstreams die Weltwirtschaft in einer „neuen Normalität“ angekommen sieht, hat Lagarde jetzt vor einer „neuen Mittelmäßigkeit“ gewarnt – ein mittelmäßiges Wachstum mit mäßigen oder rückläufigen Investitions- und Konsumraten, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und zahlreichen finanziellen Risiken – und zwar „für eine lange Zeit“. Lagardes Diagnose des „new mediocre“ kommt der Wirklichkeit sicher näher als die etwas selbstgefällige Rede von der „neuen Normalität“. Denn in der aktuellen weltwirtschaftlichen Entwicklung ist weder viel Neues noch Normales zu entdecken (>>> W&E 09/2014). Die durchschnittliche Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft wird der IWF in seinem neuen World Economic Outlook deshalb erneut nach unten korrigieren – von im Frühjahr noch vorhergesagten 3,7 auf rund 3%.

Schwerer fällt es da, den hoffnungsfrohen Aufrufen Lagardes zu einer energischeren Politik zu folgen, die der Weltwirtschaft „neuen Schwung“ einzuhauchen soll. Denn woher soll dieser neue Schwung kommen? In den letzten Jahren galten stets die Schwellenländer als die neuen Lokomotiven der Weltkonjunktur. Doch nicht nur hat ihr Wachstum in letzter Zeit stark eingebüßt. Und die USA, die unter den Industrieländern noch die besten Wachstumszahlen aufweisen, sind zu schwach, um diese Rolle allein zu übernehmen.

Hinzu kommt, dass einige Sonderfaktoren, die den Schwellenländern traumhafte Wachstumsraten ermöglicht hatten, derzeit in Auflösung begriffen sind. So ist jetzt nicht mehr zu übersehen, dass der jüngste Rohstoffzyklus inzwischen an sein Ende angelangt ist. Notwendige Anpassungen fallen insbesondere dort schwer, wo (wieder einmal) versäumt wurde, die sprudelnden Rohstoffeinnahmen zur wirtschaftlichen Diversifizierung und zum Ausbau eigenständiger ökonomischer Kapazitäten zu verwenden. Die Krise dürfte in den nächsten Monaten auch deshalb noch stärker im Süden ankommen, weil der steigende Dollarkurs, die Beendigung der lockeren Geldpolitik in den USA und die anfälligen Zinssteigerungen eine weitere Umkehr der Kapitalflüsse zwischen Nord und Süd provozieren dürften. Anders ausgedrückt: Die Faktoren, die den „carry trade“ – die Aufnahme billigen Kapitals in den USA und seine Anlage zu günstigeren Renditen in den Schwellenländern – kehren sich um. –

Keine rosigen Aussichten also für die rund 10.000 Finanz- und Entwicklungsminister, Zentral- und Privatbanker, die sich ab Mitte der Woche zur Jahrestagung von IWF und Weltbank in Washington DC versammeln werden. Und auch wenig Anlass für die Cocktail-Partys und gepflegten Festessen, die mit solchen Ereignissen gewöhnlich einher gehen!

Keine Kommentare: