24. Mai 2012

Wechsel an der ILO-Spitze: Neue Impulse gegen die Krise?

Am 28. Mai wählt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) einen neuen Generaldirektor. Der Wechsel an der Spitze ist kein reines Routineereignis. Denn mit ihrer einzigartigen Governance-Struktur der Tripartite, die neben den Regierungen auch Gewerkschaften und Unternehmervertretern jeweils ein Drittel der Stimmrechte gibt, ist die Organisation in der Lage, über die Positionen anderer internationaler Institutionen, wie IWF, Weltbank oder OECD, hinauszugehen. Der scheidende Generaldirektor, Juan Somavia, hatte sich beispielsweise als Vorsitzender des Weltsozialgipfels 1995 einen Namen gemacht und in seiner Amtszeit einen starken Akzent auf die internationale Beschäftigungspolitik gelegt.

Die wichtigsten Weichenstellungen in der ILO-Politik der letzten Jahre waren die Verabschiedung einer Deklaration zur sozialen Dimension der Globalisierung 2008, eines „Global Jobs Pacts“ in der Krise 2009 und zuletzt der Forderung nach einem „Sockel sozialer Sicherung“ („Social Protection Floor“). Die Initiativen fanden Eingang in die Vereinten Nationen und auch die G20, wenngleich sich über die praktische Bedeutung dieser Vorgänge streiten lässt. Immerhin aber modifizierten sie ein Stück weit die Debatte über internationale Wirtschaftspolitik.

Zur Wahl des Generalsekretärs in der kommenden Woche stehen nicht weniger als neun Kandidaten, vier aus Europa, drei aus Afrika, einer aus Lateinamerika (Kolumbien) und einer aus Asien (Malaysia). Als Favorit unter den Kandidaten gilt der ehemalige Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (ITUC), Guy Ryder, der sich schon früh die Zustimmung des gewerkschaftlichen Teils der Trpartite gesichert hat. Bei dem kolumbianischen Kandidaten, Angelino Garzón, ist nur schwer vorstellbar, dass sich die lateinamerikanischen Regierungen geschlossen hinter ihn stellen, auch wenn er der einzige Kandidat aus der Region ist. Anders sieht dies bei Jomo Kwame Sundaram aus, der ebenfalls als einziger Kandidat für eine Region, nämlich Asien, antritt.

Jomo ist derzeit Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und quasi deren Chefökonom und damit auch verantwortlich für die Entwicklungshilfe-Programme der UN. Er ist Ökonom, wurde in Harvard ausgebildet und hat bereits gezeigt, dass er sich in dem komplizierten und komplexen Personaltableau der UNO durchzusetzen vermag. Vor allem aber sind seine inhaltlichen Positionen bestens geeignet, um die Rolle der ILO in der internationalen wirtschaftspolitischen Debatte weiter voranzutreiben. Er teilt weitgehend die Positionen des Stiglitz-Reports von 2009 zur Reform des internationalen Finanzsystems. Er wies zusammen mit anderen UN-Ökonomen frühzeitig auf die Gefahr der drohenden globalen Finanzkrise hin und durchschaut die Fallstricke einer neoliberalen Politik der Liberalisierung der Arbeitsmärkte. Sein Vision Statement zur Wahl und seine neueste Kolumne zeigen, dass er den unter Somavia begonnenen Weg nicht nur weitergehen, sondern über ihn hinausgehen würde.

Nachtrag 30.5.2012: Zum neuen Generaldirektor der ILO wurde der ehemalige ITUC-Generalsekretär Guy Ryder gewählt. Er erhielt im Governing Body 30 von 56 Stimmen. Ryder tritt sein Amt Anfang Oktober für fünf Jahre an.

23. Mai 2012

Deutsche Solidaritaetsverweigerung in Europa: Wie lange noch?

Eurobonds, eine Bankfunktion für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und ein neues Investitionsprogramm der Europäischen Investitionsbank (EIB) könnten Bausteine sein, um die Finanzkrise in Europa zu überwinden und den Kontinent aus der Rezession zu ziehen. Vor allem Eurobonds sind zurück auf der europäischen Agenda. Gestern hat sie selbst die OECD gut geheißen. Und auch die IWF-Chefin, Christine Lagarde, steht ihnen aufgeschlossen gegenüber. Mit dem Kommissionschef Baroso, dem italienischen Premier Monti und dem neuen französischen Präsidenten Hollande stehen einflussreiche Staatsmänner hinter dem Konzept.

Doch obwohl die Unterstützung für eine Politik der entschiedeneren Teilung der Krisenlasten in Europa inzwischen bis weit in den Mainstream reicht, verweigert sich die deutsche Bundesregierung unter Merkel konsequent. Die schlichte Ignoranz gegenüber dem sich wandelnden Mainstream, die in Berlin gepflegt wird, hat mit ökonomischem Dogmatismus zu tun, aber auch mit deutscher Zuchtmeisterei. Das zentrale Argument, das beispielsweise gegen Eurobonds vorgebracht wird, lautet, dadurch werde die „Disziplin“ untergraben, die brachialen Sparprogramme und Strukturreformen umzusetzen.

Dieser Einwand ist sehr verräterisch, zeigt er doch, dass die gegenwärtige Krise bewusst dazu genutzt wird, um bestimmte Veränderungen in den schwachen Euroländern des Südens durchzusetzen. Die Spardiktate treiben die betreffenden Länder jedoch nur noch weiter in die Krise. Und die neoliberalen „Strukturreformen“, die uns jetzt als neues Wachstumsprogramm präsentiert werden, bringen nichts außer niedrigen Löhnen und Sozialleistungen – Wachstum jedenfalls nicht, denn sie schnüren die Nachfrage weiter ab. Um diese Politik durchzusetzen, verweigert Deutschland den unter seiner Überschusspolitik leidenden Euroländern schlicht die Solidarität, ohne die einer Währungsunion nun einmal nicht denkbar ist. Die Frage ist nur: Wie lange noch lässt sich dies durchhalten? Noch steht ein Durchbruch auf europäischer oder internationaler Ebene aus. Aber die Ungeduld gegenüber den Berliner Störenfrieden wächst.

22. Mai 2012

Technologietransfer: EU in der Pflicht

Gastblog von Ska Keller, MdEP

Der Transfer von Technologien – sei es im Bereich klimafreundlicher Energien  oder der Medizinforschung – steht seit langem auf der internationalen Agenda. Zumindest auf dem Papier. Immer wieder wurde das Versprechen dazu in internationale Abkommen eingebaut, so z.B. bei TRIPS. Das Abkommen zum Schutz Geistiger Eigentumsrechte erwähnt ausdrücklich, dass die Unterzeichnerstaaten Technologietransfer fördern sollen. Auch in den Klimaverhandlungen taucht der Begriff immer wieder auf.

Passiert ist bisher nicht viel. Und das, obwohl die Hauptverursacherstaaten des Klimawandels gerne sagen, auch Entwicklungsländer mögen sich bitte etwas einfallen lassen, um weniger CO2 in die Atmosphäre zu pusten. Doch wenn ein Land wie Bangladesch Strom braucht, hat es erstmal nichts als die eigene Kohle zur Verfügung. Es gibt kein bezahlbares Angebot zum Transfer klimafreundlicher Energietechnologien.

Die EU hat sich zu dem Thema außer einem nicht sehr gut bestückten Patentpool noch nichts einfallen lassen. Sogar mit öffentlichem Geld beförderte Forschung wird momentan gewinnbringend verkauft. Durch die Verlängerung der Patentschutzzeit wegen kleinster Veränderungen am Produkt läuft kaum noch ein Patent wirklich aus. Zudem sind Produkte nicht nur einem Patent unterworfen, sondern in der Regel Hunderten, wenn nicht Tausenden.

Im Vorfeld der Debatte um das neue EU-Forschungsprogramm „Horizon 2020“, das für den Zeitraum 2014-2020 gelten soll, haben nun die Grünen im Europaparlament ein Positionspapier zum Technologietransfer vorgelegt. Dort werden 13 Maßnahmen aufgeführt, die die EU und auch Mitgliedsstaaten jetzt ergreifen sollten. Sie sind ohne Reform des Patentrechts möglich – was sicher auch notwendig ist, aber viel Zeit benötigen wird, und die haben wir beim Klimawandel nicht.

Die Vorschläge beinhalten eine Entkopplung der Forschungskosten von den Produktkosten durch sog. Prize Awards; die Bereitstellung von Wissen, das mit öffentlichen Geldern erforscht wurde; die garantierte Möglichkeit für Entwicklungsländer, die existierenden Flexibilitäten im TRIPS-Abkommen auch wirklich umsetzen zu können u.v.a.m.

Mit diesem Papier wollen wir das Thema Technologietransfer (wieder) auf die politische Agenda heben und uns auf die Reform der Forschungsprogramme vorbereiten. Technologietransfer ist ein wichtiger Baustein selbstbestimmter und nachhaltiger Entwicklung. Es hilft niemanden, wenn das Windrad ständig neu erfunden werden muss.

21. Mai 2012

G8-Gipfel zwischen Abstieg und Sinatra-Prinzip

Traditionelles Familienfoto der G8
Um einmal positiv zu beginnen: Mit seiner Verlegung des G8-Gipfels von Chicago in das abgeschiedene Camp David ist Obama gelungen, das Treffen im Klub der Reichen wieder auf das ursprünglich bescheidene Format zurückzuführen: intensive Arbeitsatmosphäre statt repräsentativer Pomp. Gebracht hat das freilich nichts. Dieser G8-Gipfel am Wochenende war weder ein „Vorbereitungstreffen auf G20“, als das die deutsche Bundeskanzlerin die Zukunft der G8 einst beschrieben hat, noch hat er strategische Inputs für die anderen anstehenden Gipfeltreffen geliefert.

Zwar kündigen die G8 in ihrer Camp David Declaration die Bereitschaft an, im Falle weiter steigender Ölpreise durch die Freigabe strategischer Reserven in die Märkte intervenieren zu wollen. Doch in der Klimapolitik wird lediglich das alte „Weiter so“ bekräftigt, während zu Rio+20 kein Wort zu finden ist. Im einstigen Kerngeschäft der G8, der internationalen Wirtschaftspolitik, ist sie inzwischen nicht einmal mehr in der Lage, gemeinsame Positionen zu formulieren oder gar konkrete Initiativen auf den Weg zu bringen. Das zeigt deutlich, dass es sich hier um einen Klub der absteigenden Nationen handelt, der noch eine ganze Weile am unteren Ende der globalen Wachstums- und Wettbewerbsskala dahin dümpeln wird.

Man könnte das G8-Statement zur Weltwirtschaft erneut als Zuflucht zum Sinatra-Prinzip („I did it my way“) charakterisieren, wenn es dort heißt: „We commit to take all necessary steps to strengthen and reinvigorate our economies and combat financial stresses, recognizing that the right measures are not the same for each of us.” Doch dass dies in gewisser Weise die starken Gegensätze unter den G8 (mit einer weitgehend isolierten deutschen Kanzlerin) über den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs dokumentiert, bedeutet auch, dass sich der Zug – nach dem in Toronto und Pittsburgh von der G20 beschworenen Übergang „vom Stimulus zur fiskalischen Konsolidierung“ – vielleicht erneut auf dem Weg einer aktiveren Konjunkturpolitik befindet.

Vor allem mit dem Wahlsieg von Hollande in Frankreich ist immerhin wieder Bewegung in die internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik gekommen. Welche Rolle der Staat in Bezug auf die Wirtschaft spielen soll und welche Rolle dem Europäische Stabilitätsmechanismus künftig zukommt und ob wir vielleicht doch Eurobonds brauchen – alles dies ist zurück auf der Agenda. Schon am Mittwoch, wenn sich der informelle EU-Gipfel trifft, wird dies zu beobachten sein.  

19. Mai 2012

G8: Kampf gegen den Hunger oder Doing Business?

Obama bei der Vorstellung der G8-Nahrungsmittelinitiative
Die lautstark angekündigte New Alliance for Food Security and Nutrition der G8 ist weder neu noch ein wirkliches Bündnis. Sie kommt mit einiger Rhetorik zur Bedeutung von Kleinbauern und Frauen im Agrarsektor daher, doch das eigentliche Ziel ist die Stimulierung in- und ausländischer Privatinvestitionen. Sie huldigt der Partnerschaft mit vier afrikanischen Ländern und einer Reihe von internationalen Organisationen – von der Afrikanischen Investitionsbank bis zur FAO. Doch die Vorgaben kommen aus Washington. Sie versteht sich als Fortsetzung der L’Aquila-Initiative des G8-Gipfels von 2009, doch gegenüber den 22 Mrd. Dollar an öffentlichen Mitteln, die damit im Laufe von drei Jahren bereitgestellt werden sollten (aber nicht wurden), lag am Beginn des Gipfels gerademal eine Zusage der USA von 1,2 Mrd. Dollar vor.

Was die New Alliance von der L‘-Aquila-Initiative vor allem unterscheidet, ist die dramatische Akzentverschiebung hin zu Privatkonzernen. Mit dabei sind 45 multinationale und lokale (afrikanische) Unternehmen, die 3 Mrd. Dollar in die landwirtschaftliche Wertschöpfungskette der handverlesenen afrikanischen Mitgliedsländer investieren sollen – investieren wohlgemerkt, nicht spenden! Darunter sind der Saatgut-Konzern Monsanto, der in den nächsten Jahren 50 Mio. Dollar in den Maisanbau in Tansania stecken soll, der indische Konzern Jain Irrigation mit Investitionen von 375 Mio. Dollar und Vodafone, der ein Telefonnetz für 500.000 Bauern in Ostafrika schaffen soll. Abgesehen davon, dass die von der Privatindustrie zu erwartenden Investitionen in die Ernährungssicherheit zu gering sein und der Komplexität des Problems nicht gerecht werden dürften, drängen sie die öffentlichen Verpflichtungen der G8 in den Hintergrund: „Private Investitionen sind wichtig, aber sie werden nicht in der Lage sein, die gebrochenen Versprechen der G8 zu kompensieren“, erklärte Oxfam International.

Abgesehen von der Akzentverschiebung auf private Investitionen atmet die ganze New Alliance den Geist einer technokratischen Agrarpolitik: es geht um „bankable agricultural infrastructure projects“, um Ertragssteigerungen, um bessere Produktionstechnologien („einschließlich verbesserten Saatguts und besserer Sorten“), um eine „Grüne Revolution in Afrika“, „um den Saatgutsektor zu stärken und die Kommerzialisierung, Verteilung und den Einsatz von Schlüsseltechnologien, wie verbesserte Sorten, zu fördern“. – Um den erhofften Schub privater Investitionen zu erzeugen, warten die G8 schließlich noch mit einem besonders bizarren Vorschlag auf: So wird die Weltbank aufgerufen, einen „Doing Business in Agriculture Index“ zu entwickeln. Dies erinnert fatal an jenen Bericht gleichnamigen Titels, der jährlich deswegen kritisiert wird, weil er einseitig an den Bedürfnissen der Unternehmen ausgerichtet ist und sogar miserable Arbeitsbedingungen und die Verletzung von Gewerkschaftsrechten schon mal als Faktoren eines „positiven Investitionsklimas“ auflistet.

18. Mai 2012

Strategische Inputs vom G8-Gipfel in Camp David?

Das Interesse an der Gruppe der 8 (sieben große Industrieländer plus Russland) hat merklich abgenommen, wie die bislang verhaltene Resonanz auf den G8-Gipfel, der am 18./19. Mai in Camp David stattfindet, zeigt. Doch ganz abschreiben sollte man den in die Jahre gekommenen Klub des Nordens nicht. Mit einer breiten Agenda und im Vorfeld wichtiger globaler Konferenzen (NATO-Gipfel, G20 und Rio+20) könnte er Aufschluss über die zentralen internationalen Orientierungen der immer noch mächtigen G8-Länder geben. Eine fortlaufende Dokumentation von W&E erleichtert die Beobachtung des Gipfels, dessen Vorbereitung weitgehend im Verborgenen stattfand. Die Lage am Vorabend des Gipfels habe ich in einem Interview mit Martin Ling vom Neuen Deutschland erläutert, das heute erscheint. Hier ist sein Wortlaut:

FRAGE: Hauptthema beim G-8-Gipfel in Camp David ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Der milliardenschwere Spekulationsverlust bei der US-Bank JPMorgan Chase und die schwelende Euro-Krise sprechen nicht für eine Bewältigung der Probleme, die die G8 nach der Pleite von Lehman Brothers 2008 mit Vehemenz angehen wollten. Was hat sich seitdem konkret bewegt?

RF: Es gibt bescheidene Ansätze in verschiedenen Mitgliedsländern der G8, z.B. in den USA oder der EU. Es mangelt jedoch an Kooperation, um die aus dem Ruder gelaufenen Märkte zu reregulieren. Das Thema der Finanzkrise wird indes vorwiegend im Rahmen der G20 unter Einschluss der Schwellenländer wie China und Brasilien behandelt. Auch da sind verschiedene Punkte offen. Zum Beispiel wurde 2008 in London gesagt, dass das Prinzip »Kein Markt, kein Produkt, kein Akteur ohne Aufsicht« gelten müsse. Wenn man das als Kriterium nimmt, haben die G20 bisher eine glatte Bauchlandung hingelegt.

FRAGE: Welche Überlegungen gibt es, wie die Wachstumsschwäche in den G8-Staaten überwunden werden kann?
RF: Was dieG8 jetzt in Camp David diskutieren werden, ist eine neue Wachstumsstrategie. Mit ihr soll die bisherige fiskalische Konsolidierung durch neue Wachstumsimpulse ergänzt werden. Einigkeit über das “Wie“ gibt es nicht. Während die einen à la Merkel an Strukturreformen denken – eine Tarnbezeichnung für neoliberale Arbeitsmarkt- und andere „Reformen“ – denken die anderen à la Hollande in Frankreich eher an neue Konjunkturpakete.
 
FRAGE: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat vor dem G-8-Gipfel ein Plädoyer für freien Handel und Wachstum ohne Pump gehalten. Wie viel Unterstützung hat diese Position bei den G-8-Staaten?

RF: Merkels Position gerät mehr und mehr in die Isolation. Weder die USA noch europäische Länder wie Frankreich wollen diesen strikten Sparkurs und diesen strikten Antischuldenkurs. Die USA, Frankreich und andere sind bereit, je nach Spielraum neue Schulden aufzunehmen, um Wachstum zu finanzieren. Welche Auffassung in Camp David die Oberhand behält, wird spannend zu beobachten.

FRAGE: Der Gastgeber, USA-Präsident Barack Obama, hat als einen Schwerpunkt seiner G8-Agenda die Ernährungssicherung im Süden gesetzt. Wie ernsthaft ist dieses Vorhaben angesichts der ungebremsten Entwicklung des Landgrabbings, bei dem Investoren aus Industrie- und Schwellenländern im Süden Agrarland aufkaufen und für eigene Zwecke nutzen. Allein in den vergangenen zwölf Jahren betraf das laut der Studie »Die Ernte der Heuschrecken« 200 Millionen Hektar.

RF: Sich um Probleme des Südens zu kümmern, hat eine gewisse Tradition innerhalb der G8, seit dem L‘Aquila-Gipfel in Italien 2009 mit dem Schwerpunkt Ernährungssicherung, aber auch schon zuvor in Heiligendamm 2007 und im schottischen Gleneagles 2005, als Großbritanniens Premier Tony Blair die vollmundige Parole ausgab »Make Poverty History« (Macht Armut zur Geschichte). Das Problem ist der reduktionistische Ansatz in Bezug auf Ernährungssicherheit. Das Thema wird nur unter dem Gesichtspunkt der Maximierung der landwirtschaftlichen Produktivität gedacht, mehr Investitionen in den Agrarsektor. Dabei fällt der Aspekt der Umverteilung unter den Tisch. Der Trend geht in die Richtung, dass immer mehr Flächen genutzt werden, um sogenannte Agrotreibstoffe zu produzieren statt Nahrungsmittel. Das schränkt den Spielraum zur Bekämpfung des Hungers wesentlich ein. Im Übrigen ist das in gewisser Weise ein Ersatzthema, was sich die G8 hier vorgenommen haben, denn die Fokussierung auf Ernährungssicherheit bedeutet auch, dass über zusätzliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit nicht gesprochen werden wird. Dabei wurden die Versprechungen von Gleneagles 2005, bis 2010 die Entwicklungshilfe um 50 Milliarden Dollar pro Jahr aufzustocken, nicht annähernd eingehalten.

FRAGE: Welchen Stellenwart haben die G-8-Gipfel überhaupt noch angesichts der wachsenden Bedeutung der Schwellenländer, die die G20 zum zentralen Akteur haben werden lassen?

RF: Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Auf der einen Seite sieht es im Moment tatsächlich so aus, als wären die G8 nur noch ein Schatten ihrer selbst. Der kommende Gipfel hat bislang kaum Aufmerksamkeit in den Medien gefunden. Es wird ein kleiner Gipfel, der nur weniger als 24 Stunden dauern wird, und der nur ein schmales vierseitiges Kommuniqué produzieren soll. Auf der anderen Seite findet dieser G8-Gipfel direkt vor anderen wichtigen Treffen statt: Dem NATO-Gipfel gleich anschließend in Chicago, dem EU-Gipfel in Brüssel und schließlich dem G-20-Gipfel Mitte Juni in Los Cabos in Mexiko, auf den direkt die Rio+20-Konferenz in Rio de Janeiro folgt. Mit Blick auf diese vier Gipfel kann man in Camp David gewisse strategische Vorentscheidungen der nach wie vor mächtigsten Länder der Welt erwarten. Die G8 sollten trotz ihres Bedeutungsverlustes nicht vorschnell totgesagt werden – dafür sind sie immer noch zu mächtig.

17. Mai 2012

L20: Die soziale Komponente der G20?

Es ist ein sicheres Zeichen, dass ein G20-Gipfel naht, wenn sich die Ministertreffen häufen. Heute und morgen treffen sich beispielsweise in Guadalajara/Mexiko die Arbeitsminister der G20-Staaten (kurz: L20) und parallel dazu in Mexiko-Stadt die Agrarminister. Besonders L20 wird von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) neidvoll beäugt, weil dazu ein institutionalisierter Konsultationsmechanismus zwischen den G20 und der internationalen Gewerkschaftsbewegung sowie der privaten Geschäftswelt gehört, während sich CSOs bislang mit Ad-hoc-Konsultationen nach Gutdünken der jeweiligen G20-Präsidentschaft begnügen müssen. Bei näherem Hinsehen sind freilich auch institutionalisierte Konsultationsmechanismen kein Garant für die Durchsetzung progressiver Forderungen.

Der diesjährige L20 wird wie im letzten Jahr Empfehlungen an die Staats- und Regierungschefs formulieren, die am 18./19. Juni in Los Cabos auf der Halbinsel Baja California zusammenkommen. Im letzten November hatte das Kommuniqué des G20-Gipfels in Cannes immerhin verzeichnet, das künftig die soziale Dimension der Globalisierung ein Dauerthema auf der G20-Agenda sein solle. Eine Employment-Task-Force sollte ins Leben gerufen und in den G20-Ländern sollte ein „Sockel sozialer Sicherung“ („Social protection floor“) ins Leben gerufen und die Umsetzung sozialer und gewerkschaftlicher Rechte gestärkt werden.

Die stärkere Berücksichtigung des Beschäftigungsproblems ist jedoch nach wie vor ein brennendes Problem internationaler Wirtschaftspolitik. Die G20-Länder müssten in diesem Jahr 21 Millionen Jobs schaffen, wenn das Beschäftigungsniveau von vor der Krise wieder erreicht werden soll, haben ILO und OECD rechtzeitig zum Beginn des L20-Gipfels in einer Studie festgestellt. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen G20-Ländern ein Problem, während die prekäre Beschäftigung in allen Ländern zunimmt. Einen besonders hohen Anteil an informeller Beschäftigung verzeichnen mit durchschnittlich 40% die Schwellenländer, sofern Daten verfügbar sind.

Doch die Antworten auf dieses Problem sind zwischen ILO und OECD, die von den G20 mit der inhaltlichen Zuarbeit beauftragt wurden, keineswegs so einheitlich wie notwendig. Während ILO-Generaldirektor JuanSomavia eine „bessere Integration von Wirtschafts- und Sozialpolitik mit besonderem Nachdruck auf produktive Investitionen, Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit“ fordert, „um neue Quellen der Nachfrage zu fordern“, weist sein OECD-Kollege Angel Gurria die L20-Minister darauf hin, „dass es kosteneffiziente Wege zur Förderung der Jugendbeschäftigung gibt und dass jede fiskalische Konsolidierung klug, wachstumsfreundlich sein und auf die Interessen zukünftiger Generationen ausgerichtet sein muss“ – was immer das heißen mag. Wenn sie beidegemeinsam zum Beschäftigungsproblem Stellung nehmen, dann betonen sie „die Förderung von Investitionen in die Infrastruktur, die Sicherung des Zugangs von kleinen und mittleren Unternehmen zu Bankkrediten, die Befreiung der Märkte im Sinne der Arbeitsplatzförderung, die Ausweitung sozialer Sicherung und die Gewährleistung des Übergang von der Schule in die Arbeitswelt für die Jugendlichen“. – Bei dieser Instrumentenbox der Beliebigkeit, aus der sich jeder nach Gutdünken bedienen kann (oder auch nicht), ist es freilich kein Wunder, dass die Arbeitslosigkeit in den meisten G20-Ländern immer noch auf dem Tiefpunkt der Krise dahin dümpelt.

16. Mai 2012

Lebendiger Nord-Sued-Gegensatz

Seit die deutsche Außenpolitik unter Hans-Dietrich Genscher die zunehmende Tendenz der Differenzierung des Südens entdeckt (und herbeigewünscht) hat, lautet der wohl wohlfeilste Topos einer ganz breiten Gemeinde, der Nord-Süd-Gegensatz sei „verdampft“ und gehöre der Geschichte an. Die Anhänger dieser schönen (und beruhigenden) These müssten sich in diesen Tagen und Wochen eigentlich eines Besseren belehren lassen.

Schon auf der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank wartete der Süden unter Führung der großen Schwellenländer mit dem kraftvollen Anspruch auf mehr Mitsprache und Beteiligung in den traditionell vom Norden bzw. Westen beherrschten Bretton-Woods-Institutionen auf. Zur Wahl des Weltbank-Präsidenten, der demnächst sein Amt antritt, präsentierten die Entwicklungsländer erstmals zwei überzeugende Gegenkandidaten. Sie konnten sich nicht durchsetzen, doch die Konstellation war klar: Der Norden verteidigt seine überkommenen Privilegien, und der Süden will die vorherrschenden Asymmetrien nicht länger einfach so hinnehmen.

Ein neu auflebender und lebendiger Nord-Süd-Gegensatz strukturiert auch andere Großereignisse, die derzeit stattfinden. Die Kontroversen im Vorbereitungsprozess auf Rio+20 verlaufen wesentlich entlang von Nord-Süd-Spaltungen (sei es beim Finanz- und Technologietransfer oder bei der Green Economy), wenngleich es auch Bereiche gibt, in denen der Süden gespalten ist (>>> Der Countdown läuft:Nachsitzen für Rio+20 oder >>>Die Nord-Süd-Gegensätze vor Rio+20). Auch der kommende G20-Gipfel – dort ist der Süden zwar nur in Form der wirtschaftlich stärksten Länder vertreten und der Rest ausgeschlossen – könnte stärker von Interessengegensätzen gekennzeichnet sein als die ersten Ausgaben, mit „Währungskriegen“, neuen regionalen Verteidigungslinien (seit kurzem hat beispielsweise Asien seinen eigenen IWF) oder dem Streit darüber, in welchem Ausmaß Europa auf die IWF-Ressourcen zugreifen kann, ohne seine eigenen Hausaufgaben zu machen.

Ein Nord-Süd-Gegensatz besonderer Schärfe, die viele im Süden an einen „neuen Neokolonialismus“ erinnerte, flackerte im Vorfeld und auf der letzten UNCTAD-Konferenz in Doha auf (>>>UNCTAD XIII: Seltener Sieg). Dort ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob der Süden Anspruch auf ein internationales Forum (in diesem Fall eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen) hat, das traditionell als Plattform der Interessenartikulation des Südens gilt. Das war zweifellos nicht der traditionelle Nord-Süd-Konflikt der 1970er Jahre, als der Süden den Norden mit dem Slogan einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ angriff. Vielmehr äußerte sich in der Attacke des Nordens auf das Mandat von UNCTAD der Versuch, das in der Finanzkrise  schwer ramponierte Deutungsmonopol der beiden westlich dominierten Finanzinstitutionen wiederherzustellen (s. die vorigen Einträge in diesem Blog).

Das war freilich nicht nur eine Frage von Nord gegen Süd, sondern richtete sich gegen die Interessen vieler Menschen überall auf der Welt, wie die indische Ökonomin Jayati Ghosh schrieb. Doch dass sich in Doha letztlich auch die BRICS und andere Schwellenländer für die Bekräftigung des bisherigen UNCTAD-Mandats engagierten, ist ein Glücksfall und ein Beispiel dafür, dass eine einheitliche Front des Südens in vielen Fragen auch heute noch nicht nur wünschenswert, sondern möglich ist. Es bedarf dafür allerdings auch im Süden des Interessenausgleichs. Der Nord-Süd-Gegensatz ist kein altmodisches Hirngespinst, sondern eine sich wandelnde Realität.