22. September 2008

Wall Street: Das Ende der großen Deregulierung

Wir leben wahrlich in interessanten Zeiten. Der Ende letzter Woche von der US-Regierung aus dem Hut gezauberte Rettungsplan für das Finanzsystem stellt nicht nur die größte Ausweitung ökonomischer Staatstätigkeit in Friedenszeiten seit der Großen Depression dar. Für viele markiert er auch das definitive Ende der Deregulierungspolitik in großem Stil, wie sie unter Reagan in den 1980er Jahren begonnen und von den Bush-Leuten fortgesetzt worden war. Dabei ist es nicht damit getan, dass der amerikanische Staat faule Kredite im Wert von bis zu 700 Mrd. Dollar aufkaufen und damit vom Markt nehmen will. Es geht um nicht weniger als eine grundlegende Überholung des gesamten Aufsichts- und Regulierungssystems über die Finanzmärkte, wenn eine Wiederholung der Krise dieses Ausmaßes in Zukunft vermieden werden soll.

Die größte Ironie dabei: Die staatsinterventionistischen Maßnahmen und die Schritte der Re-Regulierung werden von denselben Leuten durchgeführt, für die noch bis vor kurzem nichts über die Lobpreisung des „freien Spiels“ der Marktkräfte ging, die um keine Ausrede verlegen waren, wenn es galt, Forderungen nach strengerer Kontrolle der Finanzmärkte abzuwehren, und für die es kein besseres Rezept der Wachstumsförderung gab, als die öffentlichen Schranken für den freien Kapitalverkehr einzureißen. Selbst spekulative Aktivitäten galten da noch als gut und nützlich für die Wirtschaftstätigkeit.

Doch siehe da: Plötzlich gehen Dinge, die noch bis vor kurzem als Ausgeburt der Regulierungswut von Globalisierungskritikern angesehen wurden, z.B. die Forderung, bestimmte besonders gefährliche Finanzinstrumente aus dem globalen Kasino zu verbannen. So haben die Aufsichtsbehörden in den USA, Großbritannien und Deutschland Ende letzter Woche die sog. Leerverkäufe („short selling“) verboten, mit denen Händler auf fallende Kurse oder Preise spekulieren. Dabei verkaufen Spekulanten Aktien oder Future-Derivate, die sie noch gar nicht besitzen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt billig wieder einzukaufen. Die Differenz ergibt den Spekulationsgewinn. Was oft übersehen wird: In der Subprime-Krise gab es nicht nur (kleine) Verlierer, sondern auch einige (große) Profiteure, die mit dieser Methode exorbitante Gewinne erzielten.

Ein anderes Beispiel, hinter dem sich der Untergang einer ganzen Branche verbirgt, ist die Meldung von heute, dass die beiden übrig gebliebenen Investmentbanken Morgan Stanley und Goldman Sachs ihre Umwandlung in normale Geschäftsbanken beantragt haben. Geschäftsbanken unterliegen einer wesentlich strengeren Marktaufsicht als Investmentbanken, die weitgehend unreguliert agieren konnten. Dass jetzt praktisch ein ganzer Sektor, ein komplettes Geschäftsmodell, das in den letzten 25 Jahren als non-plus-ultra galt, ausgelöscht wird, bestätigt die These, dass das Finanzsystem der Zukunft eher dem der 1960er und 1970er Jahre als dem der 1990er Jahre ähneln wird.

Sicher sein, wohin die Reise geht, kann man freilich keineswegs. Schließlich vollziehen die Deregulierer die Re-Regulierung höchst widerwillig und unter dem Zwang der zusammenbrechenden Märkte und systemischer Gefahren. Und sie vollziehen sie vor allen Dingen so, dass die Interessen der Geldvermögensbesitzer möglichst unangetastet bleiben. Die „Genossen Bush, Paulson und Bernanke“ (Nouriel Roubini) praktizieren – wenn schon – einen Sozialismus der Reichen, der nach dem Motto verfährt: die Verluste sozialisieren und die privaten Gewinne nicht anrühren.

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