Gastblog von Gabriele Köhler*)
Man redet und schreibt in deutschen Medien, nicht nur wegen
des heutigen Fluchtgipfels der Vereinten Nationen, viel über die
Flüchtlingskrise. Und in der Tat ist es eine Herausforderung, wenn Jobcenter
und Behörden, kleinere Kommunen, oder Arztpraxen jetzt mehr Menschen zu
betreuen haben als vor zwei Jahren. In der Tat ist es ein Problem, mit
Vorstellungen konfrontiert zu werden, nach denen Frauen nicht gleichberechtigt
wären, oder die homophob oder antisemitisch sind. In der Tat können sich
Menschen, die ökonomisch und sozial prekär leben, weil ihre Jobs oder ihre
Rentenansprüche nicht gesichert sind oder sie mit dem Hartz-IV-Minimum
auskommen müssen, verunsichert fühlen, wenn jetzt eine neue Gruppe von Menschen
in unsicheren Umständen in ihre Umgebung zieht. Diese nachvollziehbaren
Ängste, Vorbehalte, Sorgen müssen offen, mit Empathie, aber unemotional
aufgegriffen werden, und mit Fakten diskutiert werden.
Für diese vielschichtigen Herausforderungen und neuen
Aufgaben braucht es Engagement und vielerlei neue Stellen. Sozialausgaben in
Bund und in Ländern müssen großzügig aufgestockt werden, was nun sehr zögerlich
geschieht. Für ein Land wie Deutschland, das einen Haushaltsüberschuss hat, ist
das ökonomisch objektiv überhaupt kein Problem, wenn man es nur subjektiv will,
zu Solidarität bereit ist und es schafft, vom fiskalischen Austeritätswahn
abzurücken. Auch sozial ist die Aufnahme von Menschen auf der Flucht keine
Krise, insofern als es in Deutschland viele gut ausgebildete Expertinnen und
Experten in Bildungs- und Ausbildungsberufen, im Gesundheitswesen, in der
Therapie, in den Medien gibt, und zugleich eine lange und bewundernswerte
Tradition des Ehrenamts. Die Flüchtingskrise wird von daher völlig
zu Unrecht als eine Krise für Deutschland stilisiert.
Es handelt sich aber natürlich sehr wohl um eine Krise –
nämlich für diejenigen Menschen, die keine andere Lösung für sich und ihre
Familie sehen, als ihr Heimatland zu verlassen. Das ist, weil sie dort Krieg
und bewaffnetem Konflikt, Verfolgung, Folter, Ausgrenzung, ausgeliefert
sind, oder weil Armut und die Folgen des
Klimawandels direkt oder indirekt ihre Einkommensmöglichkeiten ausgehebelt
haben.
Wir wissen es aus den Medien: 65 Millionen Menschen
sind derzeit aus solchen Gründen auf der Flucht. Etwa 40 Millionen Menschen
sind Binnenflüchtlinge im eigenen Land. 20 Millionen Menschen sind in
Anrainerländer oder auch weiter weg geflohen. Etwa die Hälfte sind
Kinder, von denen viele noch dazu ohne Eltern oder Verwandte zurechtkommen
müssen. Keine und keiner flieht nur so aus Spaß oder Abenteuerlust.
Es handelt sich auch um eine Krise für arme Länder: Fast 90%
der Flüchtlinge leben in einkommensschwachen Ländern. Fünf arme Ländern
beherbergen große Flüchtlingsgruppen, und das zum Teil seit Jahrzehnten:
Pakistan, der Libanon, Iran, Äthiopien, und Jordanien. In Nepal, einem der
ärmsten Länder der Welt, leben seit 20 Jahren Flüchtlinge aus Bhutan; Dadaab,
eines der größten Flüchtlingslager der Welt, ist in Kenya. In der Türkei leben
derzeit 2.5 Millionen Flüchtlinge. Die Solidarität, die der UN-Generalsekretärskandidat
und frühere Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres seit Jahren anmahnt, muss
bei den Flüchtenden sein.
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte trifft sich die
UN-Generalversammlung nun zu einem Gipfel zur Lage von Flüchtenden und Migrantinnen
und Migranten. Karl-Heinz Meyer-Braun von der Deutschen Gesellschaft
für die Vereinten Nationen hat zu Recht gewarnt: Es
besteht die Gefahr, dass die Weltgemeinschaft die Lösung der
Flüchtlingskrise einfach auf diese – auch nur – eintägige Konferenz in New York
abwälzt, um dann den Vereinten Nationen den schwarzen Peter zuzuschieben, wenn
weiterhin zu wenig geschieht.
Es besteht aber – vielleicht wider besseres Wissen – immer
noch die Hoffnung, dass UN-Mitgliedsländer wachgerüttelt werden und sich ihrer
Versprechen erinnern. Dazu gehören das Recht auf Asyl, das seit der
Menschenrechtserklärung von 1948 verpflichtend ist, die Genfer
Flüchtlingskonvention, aber auch neuere Vereinbarungen, wie die Kinderrechtskonvention, die ILO-Empfehlung zur
universellen sozialen Grundsicherung (R202 von 2012) und die Nachhaltigkeitsagenda,
die genau vor einem Jahr versprach, “to empower refugees and migrants”
(Präambel, Para 23).
*) Gabriele Köhler ist DGVN-Vorstandsmitgleid und Mitglied im UNICEF Komitee Deutschland. Ihr Kommentar erschien zuerst auf der Website der DGVN.