2. April 2013

WSF: Himmlische und irdische Paradiese

Gastblog von Peter Niggli

Die arabischen Revolutionen standen im Zentrum des Weltsozialforums in Tunis. Hunderte von Basisorganisationen, Gewerkschaften, Frauenbewegungen, Menschenrechtsorganisationen und kulturellen Vereinen nahmen am Forum teil. Die arabischen Organisationen, Bewegungen und Vereine kamen aus Marokko, Mauretanien, Libyen, Ägypten, Syrien, dem Libanon und Irak. Die vor mehr als 40 Jahren durch Marokko aus der Westsahara nach Algerien vertriebenen Saharouis waren ebenso vertreten wie palästinensische Organisationen aus den besetzten Gebieten oder nichtarabische Minderheiten wie die Kurden oder die Berber aus Djerba.

Das Weltsozialforum machte diejenigen arabischen Regierungen nervös, die ihren eigenen Frühling vorderhand unterdrücken können. Algeriens Grenzpolizei verwehrte anfangs Woche rund 100 unabhängigen GewerkschafterInnen die Ausreise nach Tunesien. Diese kehrten jedoch nicht heim, sondern ließen sich beim Grenzposten nieder und harrten dort aus Protest bis zum Ende des Sozialforums am Samstagabend aus. Die Saharaouis durften hingegen nach Tunis ausreisen, denn sie sind für Algerien kein innenpolitisches Problem, sondern ein wertvolles außenpolitisches Pfand gegen Marokko.

Die Begegnungen und Diskussionen rund ums Weltsozialforum werfen, in aller Vorläufigkeit, ein Schlaglicht auf den Stand der Umwälzungen in Tunesien und teilweise auch in Ägypten. Der Enthusiasmus und das Gefühl, das eigene Schicksal durch kollektive Aktion gestalten zu können, wirken auch zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis nach. Unsere GesprächspartnerInnen glauben, die aktuellen und künftigen Regierungen, die politische Ausrichtung des Landes, seine wirtschaftliche und soziale Entwicklung stark beeinflussen zu können und engagieren sich weiterhin dafür. Politische Wachheit und Neugier begegnen uns überall in der Stadt.

Der Sturz des Diktators hat beachtliche politische Freiheiten und Spielräume eröffnet. Parteien sind im Dutzend, zivilgesellschaftliche Organisationen zu Tausenden neu entstanden und im ganzen Land aktiv. Die großen Publikumsmedien packen die 2011 neugewählte Regierung und die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung sehr hart an. Die öffentliche Debatte kreist um die Kluft zwischen den Versprechen der Revolution – travail, dignité, liberté – und dem enttäuschend geringen Grad ihrer Erfüllung.

Die Revolution wurde von zwei Motiven getragen: Die Willkür des tunesischen und ägyptischen Polizeistaates wirkte in alle Bereiche des täglichen Lebens hinein – sich davon zu befreien, ein Leben in Würde zu gewinnen und den postrevolutionären Staat auf politische Freiheit und Demokratie zu gründen, war das eine Motiv, das den arabischen Frühling beseelte. Das zweite war, sich aus der sozialen Misere, dem Klüngel- und Rentierkapitalismus des herrschenden Clans, der lähmenden Arbeitslosigkeit von Millionen zu befreien – eine Volkswirtschaft zu entwickeln, die dem Volk Arbeit gibt. Davon kann bislang keine Rede sein. Tunesiens Wirtschaft, vor allem der Tourismus, geriet in Krise. Und der politische Streit wird von der Gestaltung des künftigen Staats beherrscht, während die Auseinandersetzung über die soziale und wirtschaftspolitische Zukunft noch kaum begonnen hat. Hier entstand ein Frustrationspotential, das den künftigen Verlauf negativ beeinflussen kann. Schon kommen Stimmen auf, dass es diesbezüglich unter Ben Ali, Mubarak und Konsorten besser gewesen sei.

Alles beherrschend ist schließlich der Verdacht, dass das islamistische politische Spektrum die neuen politischen Spielräume zur Monopolisierung der Macht und zur eigentlichen Konterrevolution missbrauchen werde. Die Vertreter der führenden islamistischen Partei Tunesiens, der Ennahda, stellen heute die Regierung und versicherten uns, sie hätten nicht Jahre in den Gefängnissen Ben Alis geschmachtet, um politische Freiheit und Menschenrechte abzuschaffen. Sie arbeiteten auf die Verabschiedung einer neuen Verfassung im Konsens mit den oppositionellen Kräften und auf freie Wahlen hin.

Aber die Zeichen stehen anders: Ennahda-Vertreter stehen hinter in den „Ligen zur Verteidigung der Revolution“, die als Parteimilizen wirken. Sie brachten in die Verfassungsdiskussion Fragen ein wie die „Komplementarität“ von Frau und Mann, statt der Gleichheit der Geschlechter, die „kleine“ Beschneidung des Geschlechtsorgans der Frauen (in Tunesien keine „Tradition“) oder die Sharia als Grundlage des neuen Staats. Die Ennahda will die Pressefreiheit in den Griff kriegen und wehrt sich gegen eine wirkliche Unabhängigkeit der Justiz. Ein großer Teil der tunesischen Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre lehnten dies als Versuch ab, einen theokratischen Staat zu gründen. Ein großer Teil der Öffentlichkeit glaubt, dass Katar – wo die Schweiz bald eine neue Botschaft eröffnen will – die Ennahda und andere noch radikalere islamistische Strömungen massiv finanziere.

Der letzte Entwurf der neuen Verfassung enthält in vielen dieser umstrittenen Fragen zweideutige Formulierungen, die durch den Sieger der auf spätestens Ende Jahr versprochenen Wahlen je nach Gutdünken interpretiert werden könnten. Alle erwarten von den Wahlen die Entscheidung – gegen die theokratische Konterrevolution, für linke und moderate politische Parteien. Die ungelöste soziale Frage, so das Kalkül unserer Freunde, werde der Ennahda negativ angerechnet werden und garantiere fast ihre Niederlage. Wieso, fragte ich einen unserer Gesprächspartner, sollte die Ennahda freie Wahlen abhalten, wenn sie sie zu verlieren droht? Genau das, antworteten sie, sei die eigentliche politische Gefahr. An den Wahlen selber könne sie kaum mehr betrügen, aber im Vorfeld, solange sie noch wesentliche Staatsapparate kontrolliert, werde sie alles versuchen, sich einen günstigen Ausgang zu sichern.

Die Perspektive ist allen bewusst, mit denen wir zu tun haben. Sie glauben, dagegen die Schichten mobilisieren zu können, die an den ungelösten sozialen Fragen leiden. Wie soll eine Partei, die obsessiv mit ihrer unterdrückten Sexualität beschäftigt ist, fragte ein Gesprächspartner, soziale und wirtschaftspolitische Probleme kompetent anpacken? Hoffen wir, dass die TunesierInnen sich nicht fürs himmlische Paradies, sondern für ein bisschen Paradies im irdischen Leben entscheiden.

Peter Niggli ist Geschäftsleiter der Schweizer NGO-Arbeitsgemeinschaft alliance sud. Seinen Beitrag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung aus dem Tunis-Blog der alliance sud.

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