30. November 2018

G20-Gipfel: Konflikte statt konzertierter Aktionen

Gestern hat mich Martin Ling von der Tageszeitung Neues Deutschland (ND) angesichts des heute in Buenos Aires beginnenden Gipfels zu den Perspektiven der G20 interviewt. Hier ist das Interview:


ND: Mit dem Austragungsort Buenos Aires findet 2018 zum ersten Mal ein G20-Gipfel auf dem südamerikanischen Subkontinent statt – zehn Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise und zehn Jahre nach Gründung der G20 auf Gipfelebene. 2008 hieß es, ohne die Schwellenländer – allen voran China – sei keine Neuordnung der Finanz- und Weltwirtschaft mehr möglich. Der Londoner G20-Gipfel im April 2009 war der erste Ausdruck davon. Wie wichtig sind die G20-Gipfel inzwischen?

RF: Im Vergleich zu den G7 bringen die G20-Staaten selbstverständlich mehr wirtschaftliches Gewicht auf die Waagschale. Die Frage der demokratischen Legitimation stellt sich bei den G20 freilich ebenso, angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Staaten dieser Welt bei G20 ausgeschlossen bleiben. Und hinzu kommt die Frage: was liefern die G20 überhaupt noch? Sie haben sich ja selbst definiert als erstes Forum der globalen wirtschaftspolitischen Koordinierung, aber wenn man sich einzelne Punkte anguckt, dann finden Koordinierung und Zusammenarbeit kaum noch statt. 

Können Sie Beispiele nennen?

Gerne. Da wären die Finanzmarktreformen, da wurde zwar einiges gemacht im Bereich der Reregulierung, beispielsweise bei den Vorschriften zur Pufferbildung und Rücklagenbildung der Banken. Aber viele Probleme sind noch ungelöst, beispielsweise das »Too Big to Fail«-Problem, mit dem Banken von bestimmter Größe für systemrelevant erklärt wurden, was die G20 vorgaben, ändern zu wollen. Heute haben die Banken mehr wirtschaftliche und politische Macht als vor der Finanzkrise. Hinzu kommt der sogenannte Schattenbanksektor. Schattenbanken tätigen ähnliche Finanzgeschäfte wie Banken, aber unberührt von jeglicher staatlicher Kontrolle. 

Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück gab vor dem Londoner G20-Gipfel 2009 die Devise aus, dass künftig »kein Markt, kein Produkt, kein Akteur« mehr ohne Aufsicht sein dürfte. Hat nicht ganz geklappt, oder?

Überhaupt nicht! Das Beispiel der nicht regulierten Schattenbanken zeigt ja, dass es bislang keine umfassende Regulierung in diesem Steinbrückschen Sinne gegeben hat.

Die G20-Staaten wollten auch den Welthandel regulieren...

In der Tat gaben die G20 nach der Finanzkrise ein großes Versprechen ab, nämlich den Protektionismus zu bekämpfen. Inzwischen zeichnet sich für Buenos Aires aber ab, dass das Abschlusskommuniqué das Wort Protektionismus, geschweige denn den Kampf dagegen, überhaupt nicht mehr enthalten wird.

Der G20-Gipfel wird durch die tiefe Krise des Gastgeberlandes Argentinien überschattet. Die Währung Peso ist im Sturzflug, die Zentralbank hat die Leitzinsen auf 60 Prozent erhöht, in der Hoffnung, so der hohen Inflation von rund 40 Prozent und vor allem der Kapitalflucht in den Dollar Herr zu werden. Aber auch die Türkei, Brasilien und andere Schwellenländer kämpfen mit ähnlichen Problemen. Steht nach der in den USA eingeleiteten Zinswende eine neue Krise der Schwellenländer bevor?

Ja. Was wir am Beispiel der Türkei oder Argentiniens sehen, ist nur die Spitze. Wenn die Zinssteigerungen in den USA weitergehen, dann wird das Kapital weiter aus den Schwellenländern fliehen und in dem »sicheren Hafen« namens USA Zuflucht suchen. Dazu kommt, dass sich mit diesen Zinssteigerungen der Schuldendienst dieser Länder erhöht, und da die Schulden der meisten Schwellenländer in Dollar denominiert sind, kann die Situation in naher Zukunft schnell zum offenen Ausbruch von Schuldenkrisen in einer ganzen Reihe von Ländern führen.

Neben der argentinischen Krise überschattet der Handelskonflikt USA/China den Gipfel. China präsentiert sich als Verteidiger des regelbasierten Welthandelssystems und der Globalisierung, die USA setzen auf Neuverhandlungen wie beim nordamerikanischen Handelsabkommen (NAFTA) und Protektionismus via Zollschutz gegen China, aber auch die Europäische Union. Ist beim G20-Gipfel eine Annäherung zu erwarten oder eine Verschärfung der Konfrontation?

Im Moment sieht es danach aus, dass sich die Konfrontation verschärfen wird. Die USA haben ja bereits eine neue Runde von Strafzöllen angekündigt gegen China. Wobei ein wichtiger Punkt darin besteht, dass es nicht nur um das Handelsbilanzdefizit der USA an sich geht. Denn daran gemessen haben die USA den Handelskrieg mit China bereits verloren. Das US-Handelsbilanzdefizit ist seit der Verhängung von Strafzöllen durch Trump noch größer geworden. Das hat einen simplen Grund: Solange die US-Konjunktur brummt wie im Moment, wird die Nachfrage nach Importen weiter steigen und diese Importe haben sich durch die US-Zölle verteuert. Letztlich zahlen die Konsumenten den Preis dafür.

Hinzu kommt, dass die USA die Handelspolitik instrumentalisieren, um China um seine wirtschaftlichen Entwicklungserfolge zu bringen und den Konkurrenten auf frühere Stufen der Entwicklung zurückzudrängen. Deswegen immer neue Forderungen der USA im Bereich der Patentrechte, der Direktinvestitionen oder der Eigentumsrechte für Ausländer in China. Doch die Chinesen lassen sich das nicht gefallen.

Die USA argumentieren mit der »Gefährdung der nationalen Sicherheit«, wenn sie Zölle erheben. Das ist laut den Statuten der Welthandelsordnung (WTO) erlaubt. Ist dagegen ein Kraut gewachsen oder droht der globale Handelskrieg?

Ich fürchte, dass so lange Trump an der Macht ist und seine Agenda ziemlich unbehelligt umsetzt, wird dagegen kein Kraut wachsen oder gezüchtet werden können. Man sollte zudem nicht übersehen, dass Trump nicht völlig allein steht: Die USA sind nicht das einzige Land innerhalb der G20, das eine »My Country first«-Politik betreibt, sprich die Interessen des eigenen Landes einseitig durchzudrücken versucht. Trump hat wichtige Bündnispartner innerhalb der G20 in letzter Zeit bekommen – siehe die neue italienische Rechtsregierung oder siehe den unerhörten Wahlsieg des rechtsradikalen Jair Bolsonaro in Brasilien, die regelrechte Trump-Fans sind. Wenn immer mehr Länder dazu übergehen, eine »My Country first«-Politik zu verfolgen, dann wird der Anspruch der G20, wirtschaftspolitische Koordinierung und Zusammenarbeit zu betreiben und zu fördern, letztlich ad absurdum geführt. Deswegen hat jüngst auch eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den Think20 gefordert, dass man aufhören solle, von der G20 als erstes wirtschaftspolitisches Koordinierungsforum zu sprechen, wenn sie so wenig liefert.

Die offiziellen Themen auf der Agenda sind die Zukunft der Arbeit, Infrastruktur für Entwicklung und die Auflegung eines Fonds für Ernährungssicherung, zudem wollen einige Staaten dringlich über die Regulierung von Kryptowährungen beraten. Nach konzertiertem Angehen globaler Probleme klingt das nicht, oder?

Nein. Es ist inzwischen leider Usus geworden, dass jedes Gastgeberland der an sich schon verlängerten Agenda der G20 weitere Themen hinzufügt, die in seinem eigenen Interesse liegen. Bei Argentinien ist es die Agrarfrage, die selbstverständlich mit dem starken Gewicht der Agroindustrie in der argentinischen Ökonomie zusammenhängt. Was die Infrastrukturmaßnahmen betrifft, so ist es besonders fatal, dass Argentinien vorgeschlagen hat, Infrastrukturinvestitionen zu einer sogenannten Anlageklasse zu machen. Das bedeutet sozusagen, Infrastrukturinvestitionen für privates Kapital profitabel zu machen. Wie weit das gelingt, das muss man abwarten. Bisher sind die diesbezüglichen Anstrengungen jedenfalls nicht sehr erfolgreich. Aber fest steht, wogegen es ganz bestimmt gerichtet ist: Das sind die Interessen der allgemeinen Daseinsvorsorge und die Sorge für die Global Commons, also die Globalen öffentlichen Güter, wie saubere und intakte Umwelt, aber auch stabile Finanzmärkte. 

Fazit: Problemlösungen sind beim G20-Gipfel eher nicht zu erwarten, stattdessen muss man mit verschärften Konflikten im kommenden Jahr rechnen, also keine Eindämmung von Handelskonflikten und Schwellenländerkrise?

In der gegenwärtigen Konstellation leider ja. Alle Voraussagen, die jetzt von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder dem Internationalen Währungsfonds getroffen wurden, gehen von einer Eintrübung der Weltkonjunktur aus. Der Welthandel wird langsamer, die Wachstumsraten werden geringer, der Höhepunkt der internationalen Konjunktur gilt demnach als längst überschritten. Dass die G20 daran etwas ändern werden, ist beim gegenwärtigen Stand der Dinge ziemlich illusorisch.

29. November 2018

Klimagerechtigkeit und Handelsgerechtigkeit

Zur Rechtfertigung seines kruden Protektionismus argumentiert Donald Trump gerne mit der These, dass Handel fair sein müsse. Ein Copyright hat er dafür freilich nicht. Dies liegt bei der internationalen Fair-Trade-Bewegung, die pünktlich zur Klimakonferenz COP24, die am Sonntag in Katowice/Polen beginnt, eine Grundsatzerklärung „Handelsgerechtigkeit – der Schlüssel zur Stärkung derKlimaresistenz von Kleinbäuerinnen und –bauern“ veröffentlicht hat. Darin werden die Teilnehmerstaaten der Klimakonferenz aufgefordert, faire Handelspraktiken als Bedingung für Klimagerechtigkeit anzuerkennen. Dazu gehören etwa transparente Lieferketten, klare Verantwortlichkeiten sowie ein ökologischeres Wirtschaften.


500 Millionen Kleinbauernfamilien liefern über 80% der im Globalen Süden konsumierten Nahrungsmittel. Zusammen mit den Landarbeiter*innen sind sie zugleich am stärksten von den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels betroffen. „Kleinbäuerinnen und -bauern stehen im Kampf gegen den Klimawandel an vorderster Front. Einerseits leisten sie einen großen Beitrag zur Armutsreduktion und zur weltweiten Ernährungssicherheit. Gleichzeitig sind sie dem Klimawandel am stärksten ausgesetzt und besonders von Armut und Hunger bedroht. Ihre Stimme muss in den Verhandlungen im Rahmen der COP deshalb dringend stärker gehört werden", appelliert Dieter Overath, Geschäftsführender Vorstandsvorsitzender bei TransFair, an die internationale Gemeinschaft.

Kleinbäuerinnen und -bauern leiden zunehmend unter Ernteausfällen, Wasserknappheit und Naturkatastrophen. Das gefährdet die Ernährungssicherheit sowie die Lebensgrundlage ganzer Gemeinschaften. Die Anpassung an den Klimawandel wird daher für viele zu einer Frage von Leben und Tod“. Neben den Auswirkungen des Klimawandels leiden Kleinbäuerinnen und –bauern unter extremen Preisschwankungen im konventionellen Welthandel, Preisdruck und ungerechten Handelspraktiken. Handelsgerechtigkeit ist ein wichtiger Schritt, um Klimagerechtigkeit zu erreichen, indem die Bedürfnisse von kleinbäuerlichen Erzeuger*innen Priorität erhalten und deren höhere Risiken berücksichtigt werden.

Die Fair-Trade-Bewegung steht für ein faires Handelsmodell auf Augenhöhe, welches nachhaltige Produktions- und Konsummuster befördert. Durch die Kombination sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Aspekte trägt der Faire Handel zu besseren Zukunftschancen, finanzieller Stabilität und letztlich zu mehr Klimaresistenz für diejenigen bei, die am Anfang globaler Lieferketten stehen. Der faire Handel zeigt, dass Handel zum Wohl von Menschen und Umwelt möglich ist.

Am Vorabend des G20-Gipfels: Wie ein Wunschzettel des Weihnachtsmanns

Der G20-Gipfel, der morgen und übermorgen in Buenos Aires stattfindet, wirft seine Schatten voraus. Das politische Ziel für den G20-Gipfel müsse sein, schreibt VENRO in einem Pressestatement, „die USA, Saudi-Arabien, die Türkei, Australien und Brasilien für ehrgeizigen Klimaschutz wieder zu gewinnen und zu verhindern, dass diese Länder die klimapolitische Relevanz der G20 torpedieren“. Die Geschäftsführende Direktorin des IWF fordert die G20 in einem Blog-Beitrag auf, „die Anstrengungen für inklusives Wachstum zu verstärken“. Das könnte den G20-Ländern ein zusätzliches BIP-Wachstum von 4% bescheren. Das klingt ein bisschen so wie aus dem Wunschzettel des Weihnachtsmanns. Denn selten war die Wirklichkeit von einem Slogan weiter entfernt als von dem Motto der argentinischen G20-Präsidentschaft: „Konsensbildung für faire und nachhaltige Entwicklung“, heißt es.


In ihrer heutigen G20-Beilage („Argentina and the World“) schreibt die Financial Times, die reale Entwicklung der letzten Monate und Jahre (mit den rechtspopulistischen Wahlsiegen in den USA, Italien, Brasilien) sei über die „Pro-Globalisierungs-Agenda“ des argentinischen Präsidenten Mauricio Macri hinweg gegangen. Da ist was dran, auch wenn die argentinische G20-Agenda mit ihrem Plädoyer für großindustrielle Agrarwirtschaft und Infrastrukturinvestitionen als profitable Anlageklasse alles andere als ein positives Gegenbild zur realexistierenden Globalisierung darstellt. Doch die Ankündigungen neuer Strafzölle gegen China und Europa durch Trump (zuletzt als Reaktion auf die angekündigten Entlassungen bei General Motors) strafen ein Versprechen Hohn, dass die G20 einmal gegeben hatten: den konsequenten Kampf gegen den Protektionismus. Im Zeitalter der Handelskriege, so sieht es derzeit aus, schafft es nicht einmal mehr der Begriff Protektionismus, geschweige denn der Kampf dagegen, ins Abschlusskommuniqué des G20-Gipfels.

Längst sind auch die Bemühungen um globale Finanzreformen auf der Mitte der Strecke stecken geblieben – siehe etwa das ungelöste Too big to fail-Problem oder den völlig unregulierten Schattenbanksektor. Auch die argentinische Präsidentschaft kann sich nicht rühmen, diesen Bemühungen neuen Schwung gegeben zu haben, im Gegenteil: hat sie mit ihrem Deal mit den Geierfonds doch wesentliche Konzessionen an die Finanzmärkte gemacht und mit der Unterwerfung unter ein gigantisches Rettungspaket des IWF die eigene Ökonomie zur Geisel gemacht. Manche Kommentatoren munkeln schon, die Regierung Macri sei im Windschatten ihrer Globalisierungsrhetorik nicht in die Welt, sondern vor allem zum IWF zurückgekehrt. In dieser Konstellation geht auch das Kalkul nicht auf, das Macri mit der G20-Präsidentschaft verbunden hatte, nämlich eine Welle internationalen Kapitals ins Land zu locken. Das Gegenteil ist passiert: Das Kapital flieht, der Wert der argentinischen Währung hat sich halbiert, und die Wirtschaft wird dieses Jahr überhaupt nicht wachsen, sondern um rund 2,5% schrumpfen. Da kann selbst der Weihnachtsmann nicht mehr helfen!