7. Mai 2010

Deutsche Mutti-Ökonomie

Gastkommentar von Dean Baker

Die Welt, spottete Keynes in seiner „General Theory“, werde regiert von Ideen von Ökonomen, die schon lange tot sind. Dieses Bonmot kam mir in den Sinn, als ich hörte, wie ein Mitglied des Deutschen Bundestags den Vorschlag, die Europäische Zentralbank solle eine etwas höhere Inflationsrate akzeptieren, verächtlich zurückwies. Der Vorschlag stammte immerhin von Oliver Blanchard, einem der weltweit renommiertesten Makroökonomen und Chef-Volkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Man muss keineswegs immer mit einem Ökonomen einer Meinung sein, ganz gleich wie berühmt er ist oder wo er arbeitet. Aber die Art und Weise der Absage war schon erstaunlich: Der Parlamentarier erklärte apodiktisch, Inflation habe „noch nie ein Problem gelöst“.

Das ist starker Tobak. Woher nimmt er dieses Wissen, oder wie wir als Kinder in Chicago gesagt hätten: „Hast du das von deiner Mutti?“

Blanchard und andere, die für eine höhere Inflation plädieren, haben jedoch sehr gute Argumente, warum eine moderate Preissteigerung durchaus zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise beitragen könnte. Erstens mindert eine höhere Inflation den Realwert von Schulden. Davon profitieren alle Schuldner, seien es Privathaushalte, Unternehmen oder Länder.

Millionen von Hausbesitzern in den USA und in anderen Ländern mussten zusehen, wie sich mit dem Platzen der Immobilienblase ihr Vermögen in Luft auflöste. Eine geringfügige Inflationsrate würde dazu beitragen, dass die Immobilienpreise steigen und diese Familien zumindest einen Bruchteil ihres Vermögens wiedersehen. Dadurch würde auch die monatliche Hypothekenbelastung reduziert, sofern die Gehälter parallel zur Inflation steigen. Davon wiederum profitieren nicht nur die Familien: Eine geringere monatliche Belastung bedeutet, dass diese Familien mehr konsumieren können – und das kurbelt die gesamte Wirtschaft an.

Dasselbe gilt für viele Unternehmen, die vor einem Schuldenberg stehen. Mehr noch: Wenn Unternehmen wissen, dass die Preise der Güter, die sie herstellen, im Laufe eines Jahres um 3-4% steigen, werden Investitionen wesentlich attraktiver. Und schließlich erleichtert eine moderate Inflation die Schuldenlast, die heute so viele Länder drückt. Eine Inflation von 3% reduziert innerhalb von zehn Jahren den Realwert der Schulden bei festem Zinssatz um 26%, eine Inflation von 4% bedeutet sogar eine Minderung um 34%. Die moderate Inflation der 40er, 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts trug wesentlich dazu bei, dass die USA die enormen Schulden aus dem 2. Weltkrieg auf ein handhabbares Niveau zurückführen konnten.

* Irrationaler Ruf nach Bestrafung der Griechenlands

Inflation kann auch den Ländern der Eurozone mit hohen Arbeitskosten (z. B. Griechenland, Portugal oder Spanien) helfen, ihre Kosten unter Kontrolle zu bekommen. Wenn die Lohnsteigerungen in wettbewerbsfähigeren Ländern der durchschnittlichen Inflation der Euroländer entsprechen oder sogar darüber liegen, während die Löhne in den schwächeren Ländern nicht so schnell steigen, sollten letztere in der Lage sein, ihre Wettbewerbsfähigkeit schneller wieder zu verbessern.

Argumente dieser Art haben Blanchard und andere zugunsten einer etwas höheren Inflation vorgebracht. Aber dem deutschen Parlamentarier war das herzlich egal, denn er wusste ja von irgendwo her, dass „Inflation noch nie ein Problem gelöst hat“.

Politische Entscheidungen, die auf nicht hinterfragten Behauptungen (vorzugsweise aus den Lehren schon längst verblichener Ökonomen) beruhen, sind heute genau so kontraproduktiv, wie sie es in der ersten Großen Depression waren. In Europa zeigt sich dieses Drama in dem Wunsch, Griechenland zu bestrafen. Zweifellos: Griechenland muss seinen fiskalischen Augiasstall ausmisten. (Warum fordert eigentlich so einmütig niemand eine Steueramnestie, die die griechischen Schulden reduzieren und gleichzeitig zeigen würde, dass es das Land ernst meint mit dem Kampf gegen die Steuerflucht im großen Stil?) Aber niemand kann von dem Land verlangen, inmitten des stärksten Konjunkturabschwungs seit 70 Jahren seinen Haushalt auszugleichen.

Dasselbe gilt für Portugal, Spanien und andere europäische Volkswirtschaften, die in Schwierigkeiten sind. Eine Kontraktionspolitik wird die Rezession in diesen Ländern nur verschlimmern – und die negativen Auswirkungen auch in einige ökonomisch gesunde Länder tragen. Weniger Importe nach Spanien und Griechenland bedeuten weniger Exporte aus Deutschland und Frankreich. Darüber hinaus wird weiterer Druck auf diese Wirtschaften früher oder später doch zu einer Umschuldung führen. Die Schuldenlast wächst, wenn Volkswirtschaften schrumpfen – doch genau das scheint der Plan zu sein, der aus der ökonomischen Mitte Europas verfolgt wird.

Vielleicht ist es ausgleichende Gerechtigkeit, dass die Sparprogramme, die Deutschland konzipiert hat, eines Tages nach hinten losgehen könnten. Besser wäre es allerdings, wenn Deutschland von vorneherein eine gute Wirtschaftspolitik machen würde. In den 1930er Jahren konnte man schlechte Wirtschaftspolitik vielleicht noch entschuldigen – immerhin hat Keynes seine „General Theory“ erst 1937 veröffentlicht. Aber heute gibt es keine Entschuldigung mehr. Die Ideen von Keynes sind seit langem bekannt – überall. Es ist tragisch und ärgerlich zugleich, dass diejenigen, die in der Wirtschaftspolitik Entscheidungen treffen, gebensmühlenartig abgegriffene Klischees wiederholen, anstatt sich ernsthaft zu bemühen, eine Politik zu gestalten, die uns hilft, die aktuelle Krise zu überwinden.

Dean Baker ist Ko-Direktor des Center for Economic Policy Research (CEPR) in Washington. Sein Kommentar erschien zuerst auf www.guardian.co.uk.

Keine Kommentare: