Zwischen Flatscreens und Tradition
Gastblog von Rahel Fischer*)
Zwischen Flatscreens und althergebrachten Traditionen,
zwischen Familienloyalität und individuellen Lebensentwürfen, zwischen
Islamisten und Sekulären, Afrika und Europa, zwischen Hoffnung und Besorgnis
erleben wir in diesen Tagen ein mit sich ringendes, manchmal tief gespaltenes,
aber auch extrem lebendiges Land.
„Beginn Du mal… - ich ergänze dich dann“,
meint die Leiterin einer Wahlbeobachtungs-NGO lachend zu ihrem Kollegen.
Mittlerweile verstehen auch wir von der Schweizer Delegation diesen Treppenwitz
der tunesischen Revolution und lachen mit. Die energische Frau mit dem blond gefärbten
Lockenkopf spielt auf eine, über die letzten Monate heftig geführte Debatte in
der verfassungsgebenden Versammlung an. Dort hatten die Islamisten den
Vorschlag eingebracht, dass der Status der Frau in der Verfassung statt als
„égalitaire“ (gleichberechtigt) als „complementaire“ (ergänzend)
festzuschreiben sei. Die tunesischen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen
haben mit heftigem Protest auf dieses Vorhaben reagiert. Ihrem Widerstand ist
es zu verdanken, dass die verfassungsmäßige „complementarité“ der Frauen
vorerst vom Tisch ist. Doch ist allen klar: Die Stellung der Frau in der
tunesischen Gesellschaft ist eine der zentralen Konfliktlinien im Streit um das
neue - das postrevolutionäre - Gesellschaftssystem.
Nach
dem Besuch bei der Assemblée constituante
sind meine Kollegin und ich abends noch zu einer Hochzeit eingeladen. Dort
erleben wir die Vielfältigkeit, aber auch die Zerrissenheit der Gesellschaft
von „Grand Tunis“ noch einmal in ganz anderer Form. Ein Teil der rund 250 Gäste
erscheint in traditionellen Gewändern, andere haben sich in durchaus gewagte –
halbtransparente – Roben geworfen, während dritte in Sneakers und Kapuzenjacke
ihre Nonchalance betonen. Die Braut sitzt etwas erhöht auf einer Art Thron und
wartet auf ihren Zukünftigen, der kurz darauf mit seinem ganzen Familienclan im
Schlepptau und mit Geschenken für die Schwiegereltern beladen den Saal betritt.
Nach Ansprachen der beiden Väter unterschreiben Braut und Bräutigam - gefilmt
von einer Kamera und für das Publikum live auf große Faltscreens übertragen –
den Ehevertrag. Mit Fruchtsaft und Baklava stoßen wir anschließend auf das
junge Paar an. „Die Heiraten nur so jung weil er einen deutschen Pass hat und
sie gemeinsam ausreisen wollen“ flüstert mir ein Bekannter der Braut zu. Die
Emigration ist ein Traum vieler junger Tunesier und Tunesierinnen.
Zwischen
Flatscreens und althergebrachten Traditionen, zwischen Familienloyalität und
individuellen Lebensentwürfen, zwischen Islamisten und Sekulären, Afrika und
Europa, zwischen Hoffnung und Besorgnis erleben wir in diesen Tagen ein mit
sich ringendes, manchmal tief gespaltenes, aber auch extrem lebendiges,
farbiges und energetisches Land. Stoff für Diskussionen und
Auseinandersetzungen gibt es hier wahrlich genug: Das Weltsozialforum 2013 in
Tunis kann beginnen.
*) Rahel Fischer ist Mitglied des Vorstandes der Schweizer Sektion von Amnesty
International. Ihren Beitrag übernehmen
wir mit freundlicher Genehmigung aus dem Blog der Schweizer
NGO-Arbeitsgemeinschaft alliance sud.
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