25. Februar 2011

Entwicklungspolitiker aller Parteien, vereinigt Euch!

EntwicklungspolitikerInnen aller Parteien teilen offensichtlich ein gemeinsames Problem: In allen Parteien – von rechts nach links, von grün bis schwarz – ist ihr Thema das fünfte Rad am Wagen. Deshalb fällt es ihnen wohl auch leichter als anderen, Allianzen über alle Parteigrenzen hinweg zu schließen. So wie es jetzt sechs Abgeordnete der CDU, der CSU, der SPD, der Grünen und der Linken mit ihrem Aufruf für einen fraktionsübergreifenden Konsens zur Erreichung des 0,7%-Ziels getan haben. Dieses Ziel sollte von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam getragen und so parteipolitischen Profilierungsversuchen entzogen werden.

Die entwicklungspolitischen NGOs haben – wen wundert’s – den Aufruf geradezu enthusiastisch begrüßt: Die Deutsche Welthungerhilfe sprach von einem „guten Tag für die Entwicklungspolitik“, Misereor erfand die geradezu wilhelminische Sprachregelung: „Armutsbekämpfung kennt keine Parteigrenzen.“ Dabei ist das Versprechen, dass 0,7% des Bruttonationaleinkommens der Industrieländer für die Entwicklungshilfe eingesetzt werden sollen, ein 40 Jahre alter Hut und wurde bis heute nicht erfüllt. Ob kurz vor der Ziellinie der Millennium-Entwicklungsziele 2015 damit Ernst gemacht werden wird, bleibt abzuwarten.

Der Aufruf der sechs Abgeordneten jedenfalls ist ein Novum. Er hat folgenden Wortlaut:

Das Versprechen einhalten!
Aufruf für einen fraktionsübergreifenden entwicklungspolitischen Konsens zur Erreichung des 0,7%-Ziels

Das Versprechen der Industrienationen, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens mit den Ärmsten der Armen zu teilen und für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen, ist mehr als 40 Jahre alt.

Insbesondere die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben dieses Versprechen bekräftigt und konkretisiert und sich 2005 selbst verpflichtet, das 0,7%-Ziel spätestens 2015 zu erreichen. Es wurden auch verbindliche Zwischenziele festgelegt. So hätte Deutschland zum Beispiel bis 2010 eine ODA-Quote von mindestens 0,51% erreichen sollen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland dieses Zwischenziel nicht erreicht hat. Seitdem es das 0,7%-Ziel gibt, haben sich bisher alle Bundesregierung zwar grundsätzlich dazu bekannt – aber nie die Finanzmittel in den Haushalt eingestellt, die dem Pfad zur Erreichung dieses Ziels entsprochen hätten. Auch die jetzige Bundesregierung unterlegt ihr im Koalitionsvertrag gemachtes Bekenntnis zum 0,7%-Ziel bisher nicht mit den dafür notwendigen Zahlen im Bundeshaushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung.

Vor dem Hintergrund der unbefriedigenden ODA-Bilanz aller bisherigen Bundesregierungen rufen wir dazu auf, von gegenseitigen Schuldzuweisungen abzusehen sondern es jetzt gemeinsam besser zu machen.

Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass es möglich ist, die Erreichung des 0,7%-Ziels aus den parteipolitischen Auseinandersetzungen herauszuholen und einen breiten entwicklungspolitischen Konsens im Parlament zu erzielen, der auch von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt wird. Trotz Wirtschafts- und Finanzkrise und einem Haushalt, der in vielen Sektoren drastische Sparmaßnahmen vorsieht, steigert Großbritannien aktuell seine Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe und wird aller Voraussicht nach das 0,7%-Ziel schon 2013 erreichen.

Nach mehr als 40 Jahren Proklamierung des 0,7%-Ziels und knapp vier Jahre vor dem Zieljahr 2015, ist es auch in Deutschland höchste Zeit für einen partei- und fraktionsübergreifenden entwicklungspolitischen Konsens: Das Versprechen muss konsequent umgesetzt und ein Entwurf für den Haushalt 2012 sowie für die mittelfristige Finanzplanung vorgelegt werden, mit dem das 0,7%-Ziel bis 2015 tatsächlich erreicht werden kann.

Um das Versprechen einhalten und die ODA-Lücke schließen zu können, müssten in den kommenden vier Jahren im Bundeshaushalt die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe beträchtlich aufwachsen – im Schnitt pro Haushaltsjahr um mindestens 1,2 Milliarden Euro. Ergänzt um innovative Finanzierungsinstrumente könnte so ein wesentlicher Beitrag zur Schließung der ODA-Lücke geleistet werden.

Dies ist angesichts der enormen globalen Herausforderungen – rund eine Milliarde Menschen hungern –im wahrsten Sinne des Wortes NOT-wendig.

Ob die notwendigen Finanzmittel aufgebracht werden können, ist vor allem eine Frage der Prioritätensetzung. Ob wir auf die gebotene Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit verweisen, auf christliche Nächstenliebe, internationale Solidarität oder weltweite Gerechtigkeit – wir fühlen uns moralisch dazu verpflichtet, auf die Einhaltung der 0,7%-Zusage zu drängen und fordern das Bundeskabinett und den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages auf, die dafür notwendigen Weichen zu stellen.

Selbstverständlich muss auch die Wirksamkeit und Effizienz der deutschen und der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit, unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen, weiter verbessert werden. Qualität und Quantität dürfen aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beides muss gesteigert werden, um die Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 doch noch erreichen zu können.

Ein entwicklungspolitischer Konsens zur Erreichung des 0,7%-Ziels sollte von allen Fraktionen gemeinsam getragen und gemeinsam verantwortet und so parteipolitischen Profilierungsversuchen entzogen werden.

Dafür werden wir uns mit aller Überzeugung einsetzen.

Unterzeichner und Unterzeichnerinnen:
Holger Haibach, MdB (CDU/CSU Fraktion), Heike Hänsel, MdB (Fraktion Die Linke), Thilo Hoppe, MdB (Fraktion Bündnis90/Die Grünen), Bärbel Kofler, MdB (SPD Fraktion), Harald Leibrecht, MdB (FDP Fraktion), Sabine Weiss, MdB (CDU/CSU Fraktion)

23. Februar 2011

EU im Rohstoffrausch (Video)

Sondermemo fordert europäische Solidarität statt Schrumpfdiktate

Die zum 1. Januar 1999 gestartete europäische Währung befindet sich nach Auffassung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in einer existenzbedrohenden Krise. Der naiverweise erwartete Abbau der ökonomischen und sozialen Divergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten sei in den letzten zwölf Jahren nicht vorangeschritten, heißt es in einem neuen Sondermemorandum, das jetzt veröffentlicht wurde. Aktuell konzentrieren sich Spekulanten auf die Risiken, die sich aus den Finanzierungsnöten einzelner Länder ergeben. Sichtbar wird das in exorbitanten Risikoaufschlägen auf die Zinssätze beim Handel mit den Staatsanleihen notleidender Staaten. Einige Mitgliedsländer stehen vor dem aus eigener Kraft nicht mehr zu lösenden Problem, ihre Zahlungsverpflichtungen im Rahmen der Kreditfinanzierung einzuhalten.

Bei der Lösung dieser Probleme ist nach Auffassung des Bremer Hochschullehrers Rudolf Hickel europäische Solidarität gefordert: „Es wird derzeit nur an den Symptomen der Krise herumgedoktert“, kritisiert Hickel. „Die eigentlichen Ursachen der Krise werden ausgeblendet. Wenn die Auseinanderentwicklung in Europa, die bspw. durch die massiven Exportüberschüsse im Euroraum vorangetrieben worden ist, nicht beendet wird, ist die Existenz des Euro akut bedroht.“

Der Euro ist für die Alternativökonomen trotz der aktuellen Widrigkeiten ökonomisch und politisch eine zentrale Säule der monetären Integration innerhalb einer Wirtschafts- und Währungsunion. Die bedrohliche Vertrauenskrise, die sich auch in verständlichen Ängsten niederschlägt, sei überwindbar. Dazu müssten jedoch zwei Aufgaben gelöst werden: Erstens müssten die Vorteile des Eurolandes gegenüber dem Szenario einer Aufspaltung bis hin zur Wiederbelebung des D-Mark-Regimes zusammen mit der Vorherrschaft der Deutschen Bundesbank dargelegt werden; zweitens sei auf dieser Basis ein Programm zur Sicherung und zum Ausbau der Eurowährung als zentraler Bereich einer handlungsfähigen politischen Union verbindlich festzulegen. Ein solches Programm, so Heinz-J. Bontrup, muss „das
Auseinanderbrechen des Eurolandes verhindern und vor allem den Spekulanten das Handwerk legen.“ Dieses Sofortprogramm sollte als Brücke zu einer zu vollendenden Währungsunion zusammen mit einer wirtschaftlichen und fiskalischen Integration genutzt werden.

Im Einzelnen schlägt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ein Sieben-Punkte-Programm vor: erstens sollte der Euro-Rettungsschirm ausgebaut werden; zweitens sollten Eurobonds zur finanziellen Stabilisierung aufgelegt werden; drittens müsse ein Schuldenschnitt durch Gläubigerbeteiligung erfolgen; viertens sollten die Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank fortgesetzt und ein Europäischer Währungsfonds gegründet werden; die derzeitigen Schrumpfungspolitik müssen fünftens durch eine Politik des qualitativen Wirtschaftswachstums ersetzt werden; sechstens sei eine Steigerung der öffentlichen Einnahmen, z.B. durch eine Harmonisierung der europäischer Unternehmensbesteuerung, notwendig; und siebtens gelte es, auf dem Weg zu einer Wirtschaftsregierung einen alternativen, solidarischen Entwicklungsweg durchzusetzen.

20. Februar 2011

G20-Finanzminister: Slow-Start statt Quick-Start

Wenn das Treffen der G20-Finanzminister an diesem Wochenende etwas gezeigt hat, dann dies: Auch unter französischer Präsidentschaft bleibt der Fortschritt eine Schnecke. Und das ist noch wohlwollend formuliert. Am Vorabend des Treffens hatte der brasilianische Finanzminister Guido Mantega in einem Interview gefordert, man solle lieber über die Ursachen der globalen Ungleichgewichte reden als sich darüber Gedanken zu machen, mit welchen Indikatoren man sie messen kann, und forderte eine „grundlegende Reform des internationalen Währungssystems“.

Doch faktisch überragte der Streit um Indikatoren alle anderen Themen des Treffens. Am Ende stand ein Satz aus 53 Wörtern, der jetzt alle Seiten zufrieden stellt. Er lautet:

„While not targets, these indicative guidelines will be used to assess the following indicators: (i) public debt and fiscal deficits; and private savings rate and private debt (ii) and the external imbalance composed of the trade balance and net investment income flows and transfers, taking due consideration of exchange rate, fiscal, monetary and other policies.”
Die von China nicht gewollte Erwähnung der Leistungsbilanz wird jetzt umgangen, indem von “externem Ungleichgewicht” gesprochen wird, das sich aus der Handelsbilanz und Nettokapitalzu- und –abflüssen zusammensetzt. Auch die Erwähnung des Realen Effektiven Wechselkurses (REER) konnte China verhindern. Dabei ist die Erstellung des Indikatorensets lediglich der erste Schritt zur Erarbeitung „indikativer Leitlinien“, mit deren Hilfe die Indikatoren länderweise bewertet werden sollen. Dies soll jetzt auf dem Frühjahrstreffen der G20-Finanzminister im April erfolgen.

Überhaupt liest sich das Kommuniqué eher wie ein Arbeitsprogramm als eine Beschlussliste. Bis Oktober soll der IWF im Rahmen seines „Mutual Assessment Process“ (MAP) eine Einschätzung der Ungleichgewichte der G20-Länder vorlegen. Ansonsten folgt das Kommuniqué zwar formal den drei Hauptpunkten der französischen G20-Agenda: Reform des internationalen Währungssystems, Bekämpfung der Preisvolatilität auf den Rohstoffmärkten und Reform des Finanzsektors. Doch bereits jetzt zeichnen sich die Rückzieher der französischen Regierung ab: So ist nicht mehr von der Reform, sondern lediglich von der „Stärkung“ des internationalen Währungssystems die Rede. Statt der von Schwellenländern wie Brasilien und China geforderten Aufwertung der Sonderziehungsrechte (SZR) und der Einbeziehung von Real und Renminbi in den SZR-Währungskorb wird die „Rolle der SZR“ nur allgemein erwähnt. Die von Frankreich unterstützte Finanztransaktionssteuer kommt in dem Dokument nicht vor.

Immerhin werden der Rat für Finanzstabilität (FSB) und andere internationale Organisationen beauftragt, bis zum Herbst Schritte zur Regulierung und Aufsicht über die Rohstoffderivate-Märkte sowie die Stärkung der Transparenz und den Kampf gegen Marktmissbrauch zu entwickeln. In puncto Finanzsektor werden die fortbestehenden Regulierungslücken, vor allem im Bereich des Schattenbankensystems, hervorgehoben. Auch dazu werden zwei Berichte bis zum Herbst erstellt, der eine von IWF, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) und FSB, der andere von FSB, IWF und Weltbank.

Alles in allem also lässt sich sagen: Die französische Regierung hat auf dem ersten Ministertreffen unter ihrer G20-Präsidentschaft einen eher gemächlichen Start hingelegt. Ob sich so der versprochene neue Schwung im G20-Prozess erzeugen lässt, kann bezweifelt werden. Die französische Finanzministerin Christine Lagarde (>>> Foto) hat schon Recht: „Die G20 müssen sich neu beweisen.

19. Februar 2011

G20-Finanzminister in Paris: Die Dokumentation

Auf der W&E-Website ist eine Dokumentation erschienen (>>> hier), die Beschlüsse, Hintergrund-Dokumente, Analysen und Kommentare sowie Beiträge aus der Zivilgesellschaft zum Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs zusammenstellt.

Die W&E-Dokumentation findet sich >>> hier.

Das Abschlusskommuniqué des Treffens findet sich >>> hier.

18. Februar 2011

Appell an G20: Finanzwetten auf Nahrungsmittel und Hunger stoppen

Mehr als hundert Organisationen aus aller Welt fordern die FinanzministerInnen der G20 anlässlich ihrer Zusammenkunft an diesem Wochenende auf, Nahrungsmittelspekulation von Banken und Fonds zu beschränken. Der Appell hat folgenden Wortlaut:

In den vergangenen Jahren haben Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln immer wieder zu dramatischen Verknappungen in vielen der weltweit ärmsten Länder geführt. Im Jahr 2008 erlebte die Welt eine ernsthafte Krise, weil die Preise für Reis, Weizen und Mais empor schnellten. In 25 Ländern brachen Hungerrevolten aus, und die weltweite Gesamtzahl der hungernden Menschen wuchs um 100 Millionen.

Angesichts der derzeit erneut steigenden Nahrungsmittelpreise könnte eine ähnliche Krise bereits vor der Tür stehen. Wir fordern daher die Politiker und Regierungschefs der Europäischen Union, der USA und anderer Staaten auf, sofort zu handeln um eine erneute Nahrungsmittelkrise zu verhindern.

Hunger und Unterernährung zu beseitigen ist eine riesige Herausforderung, aber ein konkreter Schritt wäre es, die Finanzspekulation mit Agrarprodukten zu zügeln. Die unruhigen Zeiten auf den Finanzmärkten machen Termingeschäfte („futures“) mit Agrarprodukten für Finanzinvestoren und Spekulanten attraktiv. Enorme Kapitalmengen fluten diese Märkte. Damit verursachen sie plötzliche Preisanstiege, die für gering verdienende Familien in Entwicklungsländern tödliche Konsequenzen haben können. Hinzu kommt die steigende Preisvolatilität, da „heißes Geld“ in die Märkte ein- und wieder herausströmt. Dies hat verheerende Wirkungen für BäuerInnen, denn sie können selbst kurzfristig nicht vorhersehen, welche Preise ihre Ernte erzielen wird.

Momentan wird die Regulierung von exzessiver Rohstoffspekulation in den USA und der EU erwogen. In beiden Fällen existieren Möglichkeiten, Reformen umzusetzen und so die Nahrungsmittelpreise zu stabilisieren. Auch die Regierungen der G20 haben dieses Thema als eine Hauptpriorität ausgemacht. Dieses politische Umfeld bedeutet eine historische Möglichkeit, ein nachhaltiges Verhältnis zwischen Finanz- und Agrarmärkten zu sichern.

Doch die Finanzindustrie hat bereits Milliarden Euros investiert, um bei den Regierungen gegen Spekulationsgrenzen zu lobbyieren. Diese Lobbyisten vertreten eine kleine, aber überaus mächtige Interessengruppe, die von Geschäften profitieren, die für die Mehrheit der Menschen desaströs ist.

Wir fordern daher Regierungen und Abgeordnete auf, stattdessen den vielen VerbraucherInnen, ArbeiterInnen, BäuerInnen, Unternehmen, religiösen Gruppen, WissenschaftlerInnen, internationalen EntwicklungsaktivistInnen und allen anderen zuzuhören, die davon überzeugt sind, dass nur eine wirkungsvolle Kontrolle von Rohstoffspekulation die NahrungsmittelproduzentInnen und die weltweit ärmsten Menschen vor plötzlichen Preisspitzen und –schwankungen schützen kann.

Wir brauchen Regeln für mehrere Schlüsselbereiche. So müssen vollständige Transparenz und Aufsicht der Finanzmärkte für Nahrungsmittel gewährleistet werden. Der Beteiligung rein finanzwirtschaflicher Akteure in Warenterminmärkten für Rohstoffe müssen enge Grenzen gesetzt werden. Zudem muss der Aufkauf von physischen Lagerbeständen durch Finanzakteure verboten werden.

Das Anliegen ist dringend. Nicht nur, weil es derzeit lebhafte Diskussionen auf US-, EU- und G20-Ebene gibt, sondern vor allem weil die Preise auf den Agrar- und Finanzmärkte mit jedem Monat stärker schwanken. Wenn keine Maßnahmen getroffen werden, um die exzessive Spekulation zu unterbinden, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis wir das nächste Kapitel der globalen Hungerkrise erleben.

* Unterzeichnende Organisationen >>> hier.

Neues globales Reservesystem als G20-Thema

Rund ein Jahrhundert lang war der US-Dollar die beherrschende Weltwährung. Mit der Ablösung des Pfunds als globaler Leitwährung fehlte dem Greenback jahrzehntelang ein ernstzunehmender Rivale. Mit der Schaffung des Euro änderte sich das. Der Anteil der in Dollar gehaltenen ausländischen Reservewährungen fiel im letzten Jahrzehnt auf ca. 60%. Der Anteil des Euro stieg entsprechend auf über 25% (s. Grafik im vorhergehenden Blogeintrag).

Mit der Überwindung der Krise im Euroraum, der besseren Koordinierung der Wirtschaftspolitik und der wahrscheinlichen Ausgabe gemeinsamer Euro-Bonds (Anleihen) dürfte die Attraktivität des Euros als Anlage- und Reservewährung weiter steigen. Zugleich erwächst dem Dollar mit dem Aufstieg Chinas ein weiterer potentieller Konkurrent, sollte sich der chinesische Renminbi mit der Herstellung voller oder teilweiser Konvertibilität als globale Reservewährung qualifizieren können.

Ein weiterer Baustein in einem neuen globalen Reservesystem sind die Sonderziehungsrechte (SZR). Diese wurden schon im Gefolge des Londoner G20-Gipfels um 250 Mrd. Dollar aufgestockt. Sie könnten in Zukunft weiter anwachsen und - in Verbindung mit der Einrichtung eines Substitutionskontos beim IWF - Ländern die Möglichkeit bieten, ihre hohen Dollarreserven einzutauschen (was das Gewicht des Dollars als Reservewährung weiter reduzieren würde).

Der Übergang der chinesischen Währung zur Konvertibilität wird allerdings noch gebremst durch die hohe Volatilität des internationalen Währungssystems, der dann auch der Renminbi ausgesetzt wäre. Gelänge es, das Währungssystem, beispielsweise über die Einführung von Zielzonen, zu stabilisieren, erschiene die Konvertibilitätsproblematik auch für China in einem anderen Licht. Bereits heute hat China begonnen, die internationale Nutzung seiner Währung - beispielsweise für die Ausgabe Renminbi-denominierter Anleihen in Hongkong oder im regionalen Handel - zu ermutigen.

Der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick, ein alter Kämpe aus der Bush-Regierung, verfehlt in seinem heutigen Kommentar allerdings wieder einmal den entscheidenden Punkt: Als ginge es nur darum, die restliche Welt an das jahrzehntelange G7-Modell der frei schwankenden Wechselkurse heranzuführen, will Zoellick die Schwellenländer, allen voran China, über die G20 allmählich an die volle Konvertibilität ihrer Währungen heranführen. Dabei besteht die Crux ja seit Anfang der 1970er Jahre darin, dass der Preis der Währungen – wie die Preise von Schweinehälften – auf deregulierten Märkten bestimmt wurde. Genau das ist heute nicht mehr gewollt.

16. Februar 2011

G20-Finanzminister auf dem Weg nach Bretton Woods II?

"Jede Idee ist willkommen, auch Bandbreiten für Wechselkurse", sagte die französische Finanzministerin Christine Lagarde kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel. Sie sei stets vorsichtig mit allzu ambitionierten Zielen, "wenn wir aber so ein System hinkriegen und es von der Nachwelt Bretton Woods II genannt wird, soll mir das recht sein". Es war das erste Mal, dass ein französisches Regierungsmitglied das Wort wieder in den Mund nahm, seit der französische Präsident Sarkozy 2009 in Davos damit Furore gemacht hatte, es danach aber wieder aus dem Verkehr gezogen hatte, um nicht zu viel innerhalb der G20 Widerstand zu provozieren. Bretton Woods II steht für ein grundlegend überholtes internationales Währungssystem – eine Top-Priorität auf der französischen G20-Agenda.

Kurz vor dem ersten Finanzministertreffen unter französischer Präsidentschaft, das am Freitag und Samstag in Paris stattfindet, sieht es freilich nicht nach einem großen Wurf aus, der diesen Namen verdienen würde. Angesagt ist eher Kleinarbeit, z.B. der Versuch einer Einigung auf jene indikativen Leitlinien, mit deren Hilfe Ungleichgewichte in der Außenbilanz der G20-Mitgliedsländer identifiziert werden sollen – eine Hausaufgabe, die die Finanzminister vom G20-Gipfel in Seoul geerbt haben. Einen breiten Ansatz vertritt in dieser Frage die EU, die will, dass ein Set an Indikatoren Berücksichtigung findet, wenn Ungleichgewichte definiert werden: die Leistungsbilanz, das öffentliche Defizit und die Verschuldung, die Privatschulden, die Sparrate, die Auslandsvermögensposition, die Währungsreserven und der reale effektive Wechselkurs. Während für die EU-Kommission die Leistungsbilanz von zentraler Bedeutung ist, will die chinesische Regierung vor allem die Handelsbilanzen ansehen, um globale Ungleichgewichte zu messen. Die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) macht sich hingegen seit einiger Zeit für den realen effektiven Wechselkurs (REER) stark, der auch Faktoren wie Arbeitskosten und Produktivitätsentwicklung berücksichtigt und damit ein realistischeres Bild als reine Außenwirtschaftsindikatoren zeichnet (>>> UNCTAD Policy Briefs 19).

Eine Einigung in dieser Frage wäre nicht von Übel, weil dies die Voraussetzung wäre, um Grenzen für Überschüsse und Defizite festzulegen, ab deren Überschreitung gehandelt werden müsste (wie es US-Finanzminister Geithner im Vorfeld von Seoul vorgeschlagen hat). Dies wäre allerdings noch nicht identisch mit dem Konzept der Wechselkurszielzonen, wie es eine Gruppe fortschrittlicher Ökonomen um Oskar Lafontaine in seiner Zeit als Finanzminister entwickelt hatte und jetzt unter anderen Vorzeichen wieder ins Gespräch kommen könnte. Die Reduzierung der Wechselkursschwankungen ist jedenfalls in vieler Hinsicht eine Gretchenfrage, auch mit Blick auf ein neues internationales Reservesystem, an dem die chinesische Währung Renminbi und die IWF-Kunstwährung der Sonderziehungsrechte partizipieren könnten (>>> W&E 02/2011: Der IWF im internationalen Währungssystem). Da der Trend zu einem multipolaren Währungssystem ohnehin nicht aufzuhalten ist, schlägt der einflussreiche US-Ökonom Fred Bergsten der US-Regierung heute schon einmal vor, sie sollte sich nicht ins Bremserhäuschen setzen, sondern den Trend nach Kräften mit befördern. Denn wenn die Lasten gleicher unter drei globale Reservewährungen verteilt würden, wäre das auch gut für den Dollar.

12. Februar 2011

Industrieländer torpedieren LDC-Aktionsprogramm

Die Verhandlungen über ein neues Aktionsprogramm für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) stecken in einer Sackgasse, nachdem die reichsten Länder der Welt sich weigerten, neue Verpflichtungen einzugehen. Dies erfuhr Social Watch am Rande der New Yorker Vorbereitungsverhandlungen für die nächste LDC-Konferenz, die für kommenden Mai in Istanbul geplant ist. Die Industrieländer lehnen es ab, sich zur Erhöhung ihrer Entwicklungshilfe zu verpflichten oder andere Verpflichtungen einzugehen. Stattdessen verlangen sie von Schwellenländern wie China und Brasilien, dass auch sie formelle Verpflichtungen gegenüber den LDCs eingehen.

Der finnische Vorsitzende des Vorbereitungsausschusses, Botschafter Jarmo Viinanen, hatte ein Dokument vorbereitet, das die bislang vorgetragenen Ideen für ein Istanbuler Konferenzergebnis recht gut zusammenfasste. Argentinien hatte stellvertretend für die Gruppe der 77 (Entwicklungsländer) die reichen Länder, die in dem Dokument als „Entwicklungspartner“ bezeichnet werden, für ihre geringe Bereitschaft zu Verpflichtungen kritisiert. Die EU, die USA und Japan wiesen nicht nur den Wunsch nach Erhöhung ihrer öffentlichen Entwicklungshilfe zurück, sondern auch die Struktur des vorgeschlagenen Dokuments, das für jeden Punkt die Verantwortlichkeiten von Industrieländern und LDCs auflistet.

Stellvertretend für die LDC-Gruppe wies Nepal darauf hin, dass diese Gliederung bereits das vor zehn Jahren verabschiedete Brüsseler Aktionsprogramm kennzeichnete und in der ersten Sitzung des Vorbereitungsausschusses niemand widersprochen hatte, auch diesmal so zu verfahren. Das Hauptziel des nächsten Aktionsprogramms soll nach den Vorstellungen der LDCs darin bestehen, die Hälfte der LDCs durch die strukturelle Transformation ihrer Wirtschaft aus dem derzeitigen Status herauszuführen. Dazu bedarf es einer Neuen Internationalen Entwicklungsarchitektur, die über die 2015 auslaufenden MDGs hinausweist (>>> Eine Neue Internationale Entwicklungsarchitektur).

Der Vorgang zeigt ein weiteres Mal, wie die meisten Industrieländer derzeit nicht nur versuchen, sich aus bereits gegebenen entwicklungspolitischen Zusagen wieder hinauszustehlen. Bereits im Zusammenhang der bisherigen drei LDC-Konferenzen hatten die Industrieländer zugestimmt, 0,15% ihres Bruttosozialprodukts als ODA für die LDCs bereitzustellen (was selbstredend nicht eingehalten wurde). Umso egoistischer gibt sich der Norden, wenn es um zusätzliche Verpflichtungen geht. Jetzt wurden die Verhandlungen erst einmal bis zum 22. Februar aufgeschoben. Wie ohne einen Verhandlungsentwurf bis zur ersten Aprilwoche ein Outcome-Dokument fertig werden soll (so der offizielle Zeitplan), steht derzeit in der Sternen.

11. Februar 2011

WSF-Finale: Experimentierwerkstatt der Allianzbildung

Gastblog von Beat Dietschy*)

Das Weltsozialforum neigt sich dem Ende zu. In thematischen Versammlungen wird heute zusammengetragen, was in den vergangenen drei Tagen in rund 1000 Podien, Workshops und Netzwerktreffen angedacht und ausgetauscht worden ist. Nun geht es darum, Aktionspisten zu diskutieren und Zusammenarbeit zu vereinbaren. Beispielsweise im Blick auf „Rio plus 20“. Die UN-Konferenz, 20 Jahre nach dem Erdgipfel von 1992, im Mai 2012, darüber besteht ein breiter Konsens, muss einem neuen Entwicklungsmodell zum Durchbruch verhelfen, das den Namen „nachhaltig“ tatsächlich verdient. Das Fiasko der Klimakonferenzen von Kopenhagen und Cancún darf sich nicht wiederholen, mahnt der kanadische Umweltaktivist Pat Mooney. Und der bolivianische Uno-Botschafter Pablo Solón, der in Cancún als einziger Landesvertreter dem kläglichen Verhandlungsergebnis in der Schlussabstimmung die Zustimmung verweigert hatte, doppelt nach: Die Reproduktionsfähigkeit der Erde sei mit Marktmechanismen nicht zu garantieren. Er fordert eine Weiterentwicklung des UN-Rechtssystems mit Rechten der Natur.

Der Vorschlag für Rechte der Natur stößt auf Sympathien. Aber man hebt, erstaunlicherweise, nicht ab. Diskutiert wird vor allem, wie in den 14 Monaten bis zur Konferenz in Rio eine breite Mobilisierung der Zivilbevölkerung erreicht werden kann. Denn „Rio II“ darf nicht scheitern oder in wortreichen Nullsummenspielen enden. Eine neue Zivilisation wird gesucht, aber nicht beschworen. Worum es geht, ist, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Der Austausch in der „Rio plus 20“-Versammlung ist, während ich das schreibe, noch im Gange. Auch in den rund drei Dutzend andern Foren wird noch nach Konvergenzen gesucht, so etwa im Bereich der Schuldentilgung, der Freihandelsverträge, Frauen und Entwicklung, Wasser als öffentliches Gut.

Unmöglich, sich schon den Überblick über das ganze Forum zu verschaffen. So frage ich in unserer Reisegruppe nach dem, was bleibt. „C’est génial, ce Forum“, lobt Catherine Morand von Swissaid das reiche Angebot an Austauschmöglichkeiten. Für jede gebe es etwas zu entdecken. Walo Bauer, Stiftungsrat von Fastenopfer, ist beeindruckt von der Kunst der Improvisation, die er in Senegal und am Forum selber angetroffen hat: „Mit zum Teil prekärsten Mitteln wird Erstaunliches erreicht.“ Chaos ist nicht immer negativ, pflichtet auch Anne-Catherine Menetrey (Grüne) bei: Man treffe auf Themen und Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre.

Seit 2003, als ich am dritten Weltsozialforum in Porto Alegre dabei war, hat das Treffen sich weiter entwickelt. Zwar haben sich die Krisen verschärft und multipliziert: Krieg in Irak, in Afghanistan, zerfallende Staaten, Wirtschafts- und Finanzkrise, Klimawandel ohne Antwort der Regierungen. Sehr konkret haben Betroffene über die Folgen berichtet: Frauen, die mit unbezahlbaren Lebensmittelpreisen konfrontiert sind, Bauern, denen ihre Lebensgrundlage, das Land und das Wasser weggenommen wird (Land- und Wassergrabbing), MigrantInnen ohne Perspektiven, unterbezahlte Lehrerinnen und Lehrer. Aber es dominieren trotz Protest und scharfer Kritik nicht die Rufe nach Instantlösungen.

Mir scheint, dass die Bereitschaft noch zugenommen hat, langfristige Auswege aus der Mehrfachkrise zu suchen. Auch das Maß an Selbstkritik ist beachtlich: Nicht einfach die andern sind schuld, etwa die (zweifellos vorhandenen) Multinationalen, welche landwirtschaftliche Böden sich sichern. Auch die einheimischen Landlords und das Versagen der Regierung, ja die eigenen Fehler, werden benannt. Das Forum ist noch stärker eine Plattform für Lernen im Austausch, in Begegnung geworden, eine Experimentier-Werkstatt, in der Allianzen geschmiedet werden. So haben sich beispielsweise Gruppierungen, die gegen die desaströsen Folgen von Bergbau im Kongo, in Peru und Mexiko angehen, zusammengefunden. Ihr ambitiöses Ziel: die Raubbauwirtschaft überwinden. Der Wille, eine andere, bessere Welt zu finden, ist ungebrochen. Die Einsicht, so scheint mir, ist noch gewachsen, dass sie nicht aus einem grossen Wurf geboren wird, sondern aus den vielen Puzzleteilen des Umdenkens, Umlernens, Andersmachens langsam Gestalt gewinnt. Das Forum ist in diesem Sinne für mich eine Schule des Ungehorsams gegenüber jeder „pensée unique“, eine Schule der Entwöhnung, die zum Selberdenken führt. Angestossen vom „Süden“, der, wie Samir Amin sagt, „eigenständig denkt und handelt“.

*) Beat Dietschy ist Zentralsekretär von Brot für Alle. Wir übernehmen seinen Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus dem alliancesud-Blog aus Dakar.

10. Februar 2011

WSF 2011: Afrika zwischen Agrobusiness und Selbstversorgung

Gastblog von Peter Niggli*)

Wer immer noch glaubt, dass die AfrikanerInnen den Anschluss an die „Dynamik der Globalisierung“ verpassen, weil sie kulturell behindert seien, sollte wieder mal eine Reise in den schwarzen Kontinent unternehmen. Meine Partnerin und ich sind nun seit fünf Wochen unterwegs, zur Einstimmung durch Burkina Faso und zum Abschluss am Weltsozialforum im Senegal. Wir trafen auf Gesellschaften in starker Bewegung und Politisierung. Keine Spur von der Orientierungslosigkeit und stillen Wut, mit der viele EuropäerInnen und AmerikanerInnen auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren. Das war spürbar schon in den Dörfern – im langsam austrocknenden Sahel und in klimatisch bevorzugteren Gegenden. Vielerorts sind Dorfgemeinschaften daran, die Fruchtbarkeit ihrer landwirtschaftlichen Böden durch einfache bezahlbare Methoden zu verbessern. ViehzüchterInnen rehabilitieren ihr Weideland durch Wasserrückhaltebauten und handeln parallel dazu Reglemente aus, wie gemeinsam genutzt und für Futterzwecke bewirtschaftet werden darf, um Konflikte und Übernutzungen zu vermeiden.

Sie werden dabei durch Myriaden von lokalen Vereinigungen unterstützt, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entstanden sind. Die Vereinigung Nodde Nooto in Dori (Burkina), um ein Beispiel zu nennen, führt ihre Entstehung auf zwei Gründe zurück: (1) auf die großen Dürren im Sahel in den 70er und frühen 80er Jahren und (2) auf die strukturelle Anpassung, welche die Weltbank Burkina zu Beginn der 90er Jahre verordnet hatte. Mit der Dürre seien ausländische NGOs in ihrer Gegend ausgeschwärmt. Ein Teil der Mitglieder haben mit diesen gearbeitet, von ihnen gelernt, aber auch den Eindruck gehabt, sie könnten es selbstbestimmt besser machen. Mit der strukturellen Anpassung habe der Staat Tausende von Staatsangestellten entlassen – darunter den ganzen Apparat der landwirtschaftlichen Beratungs- und Vermarktungsstellen. Einige dieser Agrarfachleute sind Mitglieder von Nodde Nooto geworden. Nach sieben Jahren suchten sie den Kontakt zu Abdoulaye Tarnagada, einem in Burkina bekannten Agrarspezialisten und Vertreter der Schweizer NGO Fastenopfer, um zusätzliche Fachunterstützung zu erhalten.

Gleichzeitig sind die Dorfgemeinschaften, mit denen Nodde Nooto arbeitet, daran, mit den Lokalbehörden Investitionsbeiträge auszuhandeln, um die Wasserversorgung zu verbessern und die Bodenverbesserungsarbeiten zu unterstützen. Wir nahmen an einer Dorfversammlung im Freien teil, an der Männer und Frauen für 2011 zeitlich und personell die Fortführung ihrer Bodenverbesserungsarbeiten planten. Die Versammlung verlief äußerst lebendig – alle sprachen mit, zwischendurch wurde es heftig und mehrstimmig. Wir befürchteten, den ganzen Tag zu verplempern, ohne Resultate zu sehen. Nach vier Stunden war der Jahresplan jedoch vereinbart.

Im Senegal hatten wir Gelegenheit, die Führung des regierungsunabhängigen Bauernverbandes zu sprechen, der in seinen Anfängen vom lokalen Deza-Büro, der Schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit, unterstützt worden ist. Ähnliche Verbände gibt es heute in Mali, Burkina und anderen westafrikanischen Staaten. Ihr Credo: Wir sind nicht arm und elend, wir brauchen keine Nahrungsmittelhilfe, um zu überleben. Wir können uns selber und die ganze Bevölkerung versorgen, wenn wir von unseren Staaten nur schon einen Bruchteil der Unterstützung erhielten, den die europäische oder amerikanische Landwirtschaft genießt. Zusammen lobbyierten sie in den letzten Jahren die Behörden der westafrikanischen Zoll- und Währungsgemeinschaft. Sie kämpfen für die Wiedereinführung eines gewissen Zollschutzes gegen die oft subventionierten Nahrungsmittelimporte (mit einem ersten kleinen Erfolg). Und sie überzeugten ihre Regierungen, den Abschluss der sog. Partnerschaftsverträge, welche die EU mit den ehemaligen europäischen Kolonien abschließen wollte, abzulehnen. Diese hätten sog. Entwicklungshilfe mit einem weitgehenden Freihandelsabkommen verknüpft.

Offen bleibt die künftige Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik. Die Bauernverbände wollen, dass die real existierenden BäuerInnen, die Familienbetriebe, ins Zentrum gestellt werden. Die Regierungen wünschen, die Landwirtschaft künftig als Agrobusiness aufzustellen und fördern deshalb die Übernahme großer Ländereien durch einheimische Geschäftsleute und ausländische Unternehmen oder Staaten. Was die formlose Enteignung und Vertreibung der BäuerInnen zur Folge hat. Das war eines der heißesten, wenn nicht das heißeste Thema am Sozialforum. Landkämpfe sind im Senegal und in Mali überall im Gang, und an einigen Orten ist die Regierung angesichts des Widerstands zurückgekrebst.

Uns beeindruckte bei diesen Begegnungen mit BäuerInnen und BauernpolitikerInnen die rhetorische Kraft und analytische Schärfe. Worte werden nicht mühsam zusammengesucht und hervorgestammelt, hier hat man Freude am raschen eindringlichen Formulieren, an der gelungenen Metapher und am Witz, der die ZuhörerInnen zum Lachen bringt. Das gilt ebenso für die Intellektuellen, die sich vor akademisch verschraubten Formulierungen hüten.

Es passte zur Erfahrung einer bewegten, politisierten Gesellschaft, dass unsere GesprächspartnerInnen sich über den Sturz Ben Alis in Tunesien freuten und in den letzten zwei Wochen die ägyptische Revolution verfolgten, wie wenn es sie selber beträfe. Die Volksbewegungen in Nordafrika werden in Westafrika gerne auch als Drohung verwendet – seht her, ihr Herrschenden, was geschieht, wenn ihr nicht auf die Proteste des Volkes hört! Tatsächlich rechnen unsere GesprächspartnerInnen jedoch nicht mit Revolutionen in ihren Ländern. Der politische Raum im Senegal ist zu offen organisiert, die Spielräume der sozialen Bewegungen und politischen Kräfte, ihre Anliegen voranzutragen, zu groß, um die explosive Stimmung zu erzeugen, welche der tunesische und ägyptische Polizei- und Folterstaat (und der saudische, libysche oder syrische) in den letzten 30 Jahren aufgestaut haben.

Peter Niggli ist Geschäftsleiter von alliancesud in Bern. Wir übernehmen seinen Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus dem alliancesud-Blog aus Dakar.

9. Februar 2011

IWF: Fatales Versagen vor der Finanzkrise

Wie kläglich der Internationale Währungsfonds (IWF) bei der Vorhersage der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise versagt hat, kann man jetzt auch in einem Report nachlesen, den das Unabhängige Evaluierungsbüro (IEO) des Fonds herausgebracht hat. Der Bericht mit dem Titel IMF Performance in the Run-up to the Financial and Economic Crisis: IMF Surveillance in 2004-07 stellt fest, dass der IWF vor dem Ausbruch der Krise keinerlei klare Warnungen vor den Risiken und der Gefährlichkeit der Entwicklung auf den Finanzmärkten gegeben hat. Selbst noch im April 2007 waren die Hauptbotschaften des Fonds durch „übermäßiges Vertrauen in die Solidität und Widerstandsfähigkeit der großen Finanzinstitute und die Unterstützung der finanziellen Praktiken in den wichtigsten Finanzzentren“ gekennzeichnet. Die mit dem Immobilienboom und den sog. Finanzinnovationen verbundenen Risiken seien heruntergespielt worden – ebenso wie die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung des Finanzsektors.

Das IEO fand heraus, dass die Erkenntnisfähigkeit des IWF in diesen Fragen durch eine Reihe von Faktoren behindert wurde, allen voran ein hoher Grad an „gruppenkonformem Denken“ im Fonds (man könnte auch sagen: Betriebsblindheit), „intellektueller Befangenheit“ und ein allgemeiner Glauben, dass der Ausbruch von schweren Finanzkrisen in den industrialisierten Zentrumsländer unwahrscheinlich sei. In die Risikoanalysen, die der IWF nach der Asienkrise durchführte, wurden die Industrieländer überhaupt nicht einbezogen. Vor allem gegenüber der Wall Street und London herrschte im IWF offensichtlich blindes Vertrauen. Aufgespießt wird von den Verfassern des Berichts auch „eine institutionelle Kultur, die gegensätzliche Standorte entmutigt“.

Der Bericht räumt ein, dass der IWF inzwischen einiges unternommen hat, um seine Analyseinstrumente und seine Surveillance-Fähigkeit zu schärfen, dass aber noch viel zu tun bleibe: Im Fonds müsse ein Umfeld geschaffen werden, das zur Offenheit ermutige und abweichende Meinungen berücksichtige. Anreize müssten so modifiziert werden, damit „gegenüber der Macht die Wahrheit gesagt“ werden könne („speak truth to power“). Die „Silomentalität“ und die „Inselkultur“ müsse überwunden werden. – Dies ist alles richtig. Doch fragt man sich dennoch, wieso der Fonds als der große Gewinner aus der Finanzkrise hervorgehen konnte, wo es doch nicht das erste Mal ist, dass das Versagen des IWF öffentlich thematisiert wird.

>>> W&E-Dossier IWF und Weltbank

7. Februar 2011

Bewegender Auftakt des Weltsozialforums in Dakar

Gastblog von Margareta Kiener Nellen*)

Tausende Menschen wurden zum Eröffnungsmarsch des Weltsozialforums 2011 hier in Dakar/Senegal erwartet. Seit Tagen waren Karawanen aus verschiedenen Ländern Afrikas per Velo, Bus oder zu Fuß nach Dakar unterwegs. Flugbillette innerhalb Afrikas sind (zu) teuer. Eine Kollegin aus Nairobi/Kenya zahlte mehr als das Doppelte für ihren Flug nach Dakar als ich aus Zürich. Das reduziert die Zahl der Teilnehmenden aus Afrika. Trotzdem waren wir zahlreich: Bei kühlendem Wind vom Atlantik starteten am Sonntag um 14 Uhr rund 75.000 Menschen aus allen Kontinenten vom zentralen Sfax-Platz in Dakar einen friedlichen Marsch zur Cheikh Anta Diop Universität. Dort werden rund 1.200 Organisationen (500 aus Afrika und 700 aus den anderen Kontinenten) sowie mindestens 50.000 angemeldete TeilnehmerInnen aus 123 Ländern in dieser Woche die anspruchsvollen Themen für eine andere, gerechte und solidarische Welt bearbeiten.

An der Spitze des Zuges: Afrikanische ExponentInnen von sozialen Bewegungen und Dachorganisationen von FischerInnen, BäuerInnen, LandarbeiterInnen sowie Gewerkschaften. Mit 123 Nationalitäten könnte der Umzug farbenfroher nicht sein. Unsere Schweizer Delegation reiht sich ein zwischen einer italienischen Gewerkschaftsdelegation und einer großen Delegation aus Marokko. Unverkennbar die Unia-Fahnen. Afrikanische Trommeln geben von Beginn weg einen rassigen Takt an. Dazu lassen sich die rund 5 Kilometer gut zurücklegen! Übrigens: Sicherheitskräfte braucht es hier deutlich weniger als am WEF in Davos, und Dakar wurde auch nicht zur Festung umgebaut.

Mit heißem Applaus wird eine Delegation aus Tunesien begrüßt. Kaum je war der Aufschrei nach Demokratie in Afrika weltweit sichtbarer als heute. Genau im Zeitpunkt, da in Nordafrika – in Tunesien und Ägypten – autoritäre Regime gestürzt werden und die Elfenbeinküste in akutem Konflikt steht, schauen AfrikanerInnen mit Interesse auf die politischen Alternativen. In Lateinamerika: Bolivien, Brasilien und Ecuador sind zu vielversprechenden alternativen Staatsmodellen geworden. Evo Morales, Staatspräsident von Bolivien, ist persönlich anwesend. In einem überzeugenden Auftritt motiviert er die Anwesenden mit einer langen Rede, in allen Ländern soziale Bewegungen, Gewerkschaften und politische Parteien so aufzubauen und zu organisieren, dass sie bei Wahlen eine Mehrheit gewinnen. Er teilt uns auch seinen Traum mit: Möglichst viele zukünftige StaatspräsidentInnen sollen aus den Forums-TeilnehmerInnen hervorgehen.

Ich spüre hier viel Kraft und eine große Solidarität. Das gemeinsame Ziel ist klar: weg von einem System, das Reichtum für wenige und immer mehr Armut für viele bringt. Wir sind nicht verdammt dazu, alle paar Jahre eine immer einschneidendere Krise wegen des herrschenden Casinokapitalismus zu erleiden. Und: Wir müssen handeln, bevor die nächste Krise kommt. Ein Sprichwort aus Senegal lautet: „Die Schweiz hat die Uhren erfunden, aber Senegal die Zeit.“ Nutzen wir die Zeit am WSF 2011 hier in Dakar, um konkrete Maßnahmen für eine andere Welt zu planen. Bereits vor dem Forum verabschiedet wurde eine Charta für MigrantInnen. Eine andere Welt ist möglich. Ich freue mich auf ergebnisreiche Tage hier in Dakar. Die Aufbruchstimmung für eine andere Welt ist da!

*) Margareta Kiener Nellen ist SP-Nationalrätin in der Schweiz. Wir übernehmen den Blogbeitrag mit freundlicher Genehmigung aus dem alliancesud-Blog aus Dakar.

>>> Fotos vom WSF 2011

4. Februar 2011

Welthungerhilfe: Nahrungsmittelspekulation stoppen

Die Deutsche Welthungerhilfe fordert die Bundesregierung auf, sich für einen Stopp der exzessiven Spekulation mit Agrarrohstoff-Derivaten einzusetzen und begrüßt, dass Frankreich das Thema während seiner G20-Präsidentschaft ganz oben auf die Agenda gesetzt hat. „Die Zeit drängt. In einzelnen Ländern, vor allem in Asien, ist die Lage schon kritisch. Wenn die Vorräte zu Ende gehen, werden Millionen Menschen in den Hunger getrieben, weil sie sich ihre täglichen Mahlzeiten nicht mehr leisten können“, warnte der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann.

Die Welthungerhilfe belässt es nicht bei der pauschalen Verurteilung der Spekulanten, sondern fordert, im Zuge der aktuell anstehenden europäischen Reform der Finanzmarktrichtlinie Regeln für den Handel mit Agrarrohstoff-Derivaten aufzustellen. Die Märkte für globale Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais oder Reis müssten wieder nach fundamentalen Marktdaten – Angebot, Nachfrage, Lagerbestände – funktionieren. Zur Regulierung der Nahrungsmittelmärkte gehöre:
* Transparenz an Warenterminbörsen: Es müsse klar sein, wer mit Agrarrohstoffen handelt. Der Agrarrohstoff-Derivate-Markt sollte den Händlern zugänglich sein, die Preise bilden und Risiken absichern, und nicht den Finanzakteuren.
* Mengenbeschränkungen: Händler dürften nur ein bestimmtes Volumen an Derivaten halten, um Konzentration bei einzelnen Händlern zu verhindern. Die Mengen sollten auf der tatsächlichen Menge an verfügbaren Agrargütern basieren.
* Preisbeschränkungen: Falls die festgesetzten Preise bei Agrarrohstoff-Derivaten überschritten werden, sollte der Handel ausgesetzt werden, um Panikreaktionen und Preisverzerrungen zu verhindern.

„Wichtig ist, dass bei der Neuregulierung nicht nur die Interessen der europäischen Landwirtschaft im Mittelpunkt stehen, sondern dass ein Schwerpunkt auf die Ernährungssicherung in Entwicklungsländern gelegt wird“, sagte Jamann. „Dort geht es um das nackte Überleben.“ – Das Thema Nahrungsmittelspekulation ist derzeit in aller Munde, da die FAO soeben ein Allzeithoch ihres World Food Price Index bekannt gegeben hat und allgemein davon ausgegangen wird, dass die Nahrungsmittelpreise in diesem Jahr weiter steigen werden. Wichtige Finanzmarktorgane, allen voran die Financial Times bestreiten jedoch den Anteil, den die systematische Spekulation an dieser Entwicklung trägt. Umso bemerkenswerter ist die klare Stellungnahme der Welthungerhilfe zu dieser Frage.

3. Februar 2011

Ernährungssicherheit: Acht Punkte für G20

EILMELDUNG: FAO food price index hits record high

Weltbank-Präsident Robert Zoellick hat kürzlich neun Maßnahmen angeführt, die die G20 unter der derzeitigen französischen Präsidentschaft verabschieden sollten (>>> Nichts dazu gelernt: Weltbank und Agrarmärkte). Diese reichen von verbesserten Informationen über Getreidevorräte und besseren Methoden der Wettervorhersage bis hin zu gestärkten sozialen Sicherheitsnetzen für die Armen sowie Hilfen für Kleinbauern, damit diese von Angeboten humanitärer Kostenträger wie dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen (UN) profitieren. Diese Maßnahmen sind sinnvoll, berühren aber nicht die eigentlichen Ursachen der Krise. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter (s. Foto), hat jetzt im Rahmen eines Kommentars einen Acht-Punkte-Katalog erstellt, den die G20 übernehmen sollten, um weitere Preisschocks zu verhindern:

„Als erstes sollten die G20 die Fähigkeit von Ländern unterstützen, sich selbst zu ernähren. Seit den frühen 1990ern sind die Ausgaben für Nahrungsmittel in vielen armen Ländern um das fünf- oder sechsfache gestiegen, was nicht allein dem Bevölkerungswachstum zuzuschreiben ist, sondern ebenso dem Fokus auf exportgeleitete Landwirtschaft in den betroffenen Ländern. Fehlende Agrarinvestitionen in die lokale Subsistenzwirtschaft machen diese Länder sowohl für internationale Preisschocks als auch für Wechselkursschwankungen verwundbar. Mosambik importiert z.B. 60% seines Weizenverbrauchs und Ägypten 50% des gesamten Nahrungsmittelangebots. In diesen Ländern wird die Nahrungsmittelversorgung zu akzeptablen Kosten direkt durch Preissteigerungen beeinträchtigt. Diesem Trend muss etwas entgegengesetzt werden, indem Entwicklungsländern ermöglicht wird, ihre Bauern zu unterstützen bzw. sie vor Dumping durch ausländische Produzenten zu schützen, wo das heimische Angebot bereits ausreichend ist.

Zweitens sollten Nahrungsmittelreserven angelegt werden und dies nicht nur in für Katastrophen anfälligen und infrastrukturarmen Gebieten, wie Zoellick vorschlägt, sondern auch, um stabile Einkommen für Agrarproduzenten zu fördern und um erschwingliche Nahrungsmittel für die Armen sicherzustellen. Wenn sie transparent und partizipatorisch verwaltet und zusätzlich regionale Kapazitäten gebündelt werden, können Nahrungsmittelreserven eine wirksame Methode sein, um die Marktmacht von Verkäufern zu stärken und Spekulationen von Wertpapierhändlern entgegenzuwirken, so dass Preisschwankungen limitiert werden.

Ebenso sollte drittens die Finanzspekulation begrenzt werden. Zwar ist sie nicht die Ursache von Preisschwankungen, aber diese werden durch Spekulationen mit Derivaten wesentlicher Nahrungsmittelrohstoffe maßgeblich verschlimmert. Solche Spekulationen wurden durch die im Jahr 2000 beginnende massive Deregulierung der Rohstoff-Terminmärkte ermöglicht – und das muss jetzt rückgängig gemacht werden. Die großen Volkswirtschaften sollten gewährleisten, dass der Zugang zu solchen Derivaten so weit wie möglich auf qualifizierte und sachkundige Investoren begrenzt wird, die ihre Erwartungen durch Grundkenntnisse des Marktes stützen und sich nicht durch kurzfristige Spekulationsgewinne leiten lassen.

Viertens befürchten viele notleidende Entwicklungsländer, dass soziale Sicherheitsnetze, wenn sie einmal eingeführt sind, aufgrund plötzlicher Verluste von Exporteinkommen, schlechten Ernten oder steilem Preisanstieg von Nahrungsmittelimporten finanzpolitisch unhaltbar werden. Die internationale Gemeinschaft kann helfen, diese Zurückhaltung zu überwinden, indem sie globale Rückversicherungsmechanismen einrichtet. Wenn Prämien teilweise durch versicherungsnehmende Staaten bezahlt und durch Geberbeiträge angepasst werden, hätten Länder einen starken Anreiz, widerstandsfähige Programme für soziale Sicherung zu realisieren.

Fünftens brauchen die Bauernverbände Unterstützung. Ein Hauptgrund, warum die Mehrheit der Hungernden zu denen gehört, die in Abhängigkeit zu landwirtschaftlichen Kleinbetrieben stehen, liegt darin, dass diese unzureichend organisiert sind. Durch die Bildung von Genossenschaften können sie in der Wertschöpfungskette in die Aufbereitung, Verpackung und ins Marketing ihrer Produkte aufrücken. Sie können ihre Verhandlungsposition sowohl für Eingangskäufe als auch für den Verkauf ihrer Erzeugnisse verbessern. Und sie können eine wichtige politische Interessengruppe werden, so dass Entscheidungen über sie nicht mehr ohne sie getroffen werden.

Wir müssen sechstens den Zugang zu Land schützen. Jedes Jahr wird eine Fläche, die größer als Frankreichs landwirtschaftliche Nutzfläche ist, an ausländische Investoren oder Regierungen abgetreten. Dieser Landraub, der meistens in Subsahara-Afrika stattfindet, stellt eine der größten Bedrohungen für die zukünftige Ernährungssicherheit der betroffenen Bevölkerung dar. Egal welche Gewinne aus der Agrarproduktion resultieren – von diesen Investitionen werden ausländische Märkte und nicht die lokalen Gemeinden profitieren. Die G20 könnten ein Moratorium dieser großangelegten Investitionen fordern, bis eine Einigung über geeignete Spielregeln erreicht ist.

Siebtens muss der Übergang zu nachhaltiger Landwirtschaft abgeschlossen werden. Wetterereignisse sind eine wesentliche Ursache für Preisschwankungen auf Agrarmärkten. In der Zukunft kann erwartet werden, dass durch den Klimawandel mehr Angebotsschocks verursacht werden. Zusätzlich gilt der Landwirtschaftssektor als Hauptverursacher des Klimawandels. Er ist verantwortlich für 33% aller Treibhausgas-Emissionen, wenn man Entwaldung für Kultivierung und Weideflächen mit einrechnet. Wir brauchen landwirtschaftliche Systeme, die widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel sind und die einen Beitrag zu seiner Verminderung leisten. Die Agrarökologie verweist auf Lösungen, aber es ist tatkräftige Unterstützung durch Regierungen erforderlich, um existierende Erfolgsmethoden zu verbessern.

Schlussendlich müssen wir achtens das Menschenrecht auf Nahrung verteidigen. Menschen leiden nicht deshalb Hunger, weil zu wenig Nahrung produziert wird, sondern weil ihre Rechte ungestraft verletzt werden. Hungeropfern muss ermöglicht werden, Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen, wenn ihre Regierungen dabei scheitern, effektive Maßnahmen gegen Nahrungsmittelunsicherheit zu ergreifen. Regierungen müssen ein Existenzminimum, ein ausreichendes Gesundheitswesen und sichere Bedingungen für die weltweit 450 Millionen landwirtschaftlichen Arbeiter garantieren, indem sie Abkommen über Arbeitnehmerrechte in ländlichen Gebieten durchsetzen und einer unabhängigen Überwachung unterstellen.“

2. Februar 2011

Social Watch: Schuldenkrise und soziale Krise in Europa

Das internationale Netzwerk Social Watch hat in Brüssel seinen neuen europäischen Bericht mit dem Titel „Time for Action – Responding to Poverty, Social Exclusion and Inequality in Europe and Beyond” vorgestellt. Der Report analysiert die soziale Lage in Europa und die Reaktionen der europäischen Politik. Darüber hinaus beleuchtet er die Mitverantwortung der Europäischen Union für die soziale Lage in den Entwicklungsländern.

Der Report stellt fest, dass Armut und soziale Ausgrenzung für viele Europäer sehr real sind und dass die Regierungen zu wenig tun, um diesen Zustand zu ändern. Außerdem deckt der Bericht auf, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit europäischer Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsländern noch immer eine große Lücke klafft. Der Bericht zeigt in thematischen und länderspezifischen Kapiteln, wie düster sich die soziale Realität in Europa darstellt: Nahezu 17% der Bevölkerung der EU leben in Armut und sozialer Ausgrenzung. In vielen Ländern beträgt die Arbeitslosigkeit über 20%. Vor allem MigrantInnen, Sinti und Roma sowie alte Menschen sind von Armut bedroht und von sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Frauen sind noch immer gefährdeter als Männer, in soziale Notlagen zu geraten; Jugendliche sind überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht. „In Krisenzeiten sind Frauen und Kinder, und hier speziell Mädchen, am stärksten von deren Auswirkungen betroffen“, betont Genoveva Tisheva von der Bulgarischen Stiftung für Geschlechterforschung.

Die Finanzkrise hat die sozialen Probleme Europas noch verschärft. Mirjam van Reisen von der Universität Tilburg sagt dazu: „Die enorme Verschuldung durch die Rettungspakete für die Finanzindustrie hat in vielen Staaten zu Kürzungen in den Sozialsystemen geführt. Dadurch verschärft sich die Krise.“ Eine mögliche Reaktion auf diese Zustände ist das Konzept der sozialen Grundsicherung für Alle, das in vielen Ländern noch immer nicht verwirklicht ist. Roberto Bissio, Koordinator des globalen Social Watch-Netzwerks, betont: „Die EU muss für sich definieren, was sie unter sozialer Grundsicherung versteht. Und sie muss eine Politik entwickeln, diese Grundsicherung bereitzustellen. Ansonsten verliert sie an Glaubwürdigkeit in ihrer Außenpolitik. Denn man kann nicht vom Rest der Welt fordern, was man selbst noch nicht zu Stande bringt.“

Der Bericht steht >>> hier zum Download bereit.