29. Januar 2012

Neue Modelle aus Davos? Nicht geliefert

Die internationale Gemeinschaft sollte Wachstum und Jobs zu ihrer obersten Priorität machen, erklärten Top-Manager wie der CEO der Citi-Bank, Vikram Pandit, zum Abschluss der Weltwirtschaftsforums. Der Kapitalismus und der freie Markt sollten die sozialen Bedürfnisse der Gesellschaften besser berücksichtigen, sagte WEF-Begründer Klaus Schwab. Soviel wussten wir auch schon vorher. In Bezug auf das Konferenzmotto „Die Große Transformation. Neue Modelle gestalten“ hat Davos nicht geliefert. Das gilt sowohl für die kurzfristige als auch für die langfristige Perspektive.

Kurzfristig waren die Erwartungen besonders hoch gespannt in Bezug auf die Lösung der Finanzkrise in Europa. Doch spätestens seit Angela Merkels Eröffnungsrede am Mittwoch war klar, dass es hier keine Bewegung geben würde. Das Forum wurde vielmehr zur Plattform der Austragung von Gegensätzen, die die Szenerie inner- und außerhalb der Eurozone inzwischen bestimmen, dominiert von deutschen Spardiktaten und britischen Deregulierungspostulaten. „Merkel hat nichts gelernt und nichts vergessen“, fasste der ökonomische Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, kurz und bündig zusammen. Schon am Montag auf dem EU-Gipfel werden wir sehen, wie es weitergeht.

Und die langfristigen Aussichten auf Modelle, die den überkommenen Kapitalismus des 20. Jahrhunderts ablösen könnten? Außer mit ein paar Selbstdarstellern des „sozialen Unternehmertums“ (wie den Mikro-Banker Yunus aus Bangladesh) und einigen „Young Shapers“, die alles besser machen wollen, konnte der Übervater des Forums, als der Klaus Schwab gilt, nicht aufwarten. Auch wenn seine neue Art der Kapitalismuskritik so manchen Banker in Davos „kalt erwischte“, wie die FAZ bemerkt haben will, sind die Orientierungen des Davoser Forums inzwischen doch von einer Hohlheit, die ihresgleichen sucht: Nach „Umdenken, umgestalten, erneuern“ 2010 hieß es 2011 „Gemeinsame Normen für die Neue Realität“ und dieses Jahr eben „Neue Modelle gestalten“. Doch wird weder wirklich umgedacht noch irgendetwas umgestaltet oder wenigstens eine schonungslose Diagnose der Veränderungen angestellt. Dennoch ist alles irgendwie groß und neu, vor allem die Fassade.

28. Januar 2012

Davos, 4. Tag: Wo ist der Protest? Die neuen Stars

Wo sind all die Protestler geblieben, jetzt, wo sie wirklich gebraucht werden, fragt heute auch der ökonomische Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf. Am 4. Tag hat das Weltwirtschaftsforum einen Gang zurückgeschaltet von der Verzweiflung in den Modus der Verunsicherung, wie einige Beobachter formulieren. Zumindest hat sich die Situation der Weltwirtschaft in den letzten Tagen nicht weiter verschlimmert, so die allgemeine Gewissheit. Doch die Erleichterung, so Wolf, ist die eines zum Tode Verurteilten, dem es gelingt, noch kurz vor der Hinrichtung seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Die positiven Meldungen, die die Stimmung aufheitern, sind vor allem die neuen Wachstumserfolge, die die USA im letzten Quartal des Jahres 2011 verzeichneten und die jetzt öffentlich geworden sind (2,8% auf Jahresbasis), und die leicht abnehmende Arbeitslosenrate. Deutschland ist dabei, sich weiter unbeliebt zu machen, indem seine Vertreter die Aufstockung des Europäischen Stabilitätsmechanismus weiter abblocken und jetzt sogar ein direktes Protektorat der EU für Griechenland ins Spiel gebracht haben, an das Haushalts- und andere Souveränitätsrechte zumindest vorübergehend abgegeben werden sollen.

Die unbestrittenen Stars dieses Weltwirtschaftsforums sind jetzt der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, und die Direktorin des IWF, Christine Lagarde. Ersterer, weil er gestern sehr klar gemacht hat, dass die EZB mit ihren Maßnahmen der geldpolitischen Lockerung im letzten Dezember erneut einen Zusammenbruch des Kreditsystems („credit crunch“) in Europa verhindert hat. Und Lagarde, weil sie jetzt eindeutig die Führung der Front übernommen hat, die den Druck auf Deutschland zur Ausweitung des Rettungsschirms fortwährend erhöht. Dies allerdings nicht ganz uneigennützig. Denn viele in Davos – von den USA über Japan und Großbritannien bis zu den Schwellenländern – haben klar gemacht, dass sie nur mehr IWF-Mittel bereitstellen werden, wenn Europa sich selbst hilft.

Warten wir einmal ab, ob das jetzt die letzten Weisheiten aus Davos sein werden oder ob das sonntägliche „Debriefing“ noch mehr bringen wird. Einen Gesamtrückblick auf das WEF (und auch einige Ergebnisse vom Weltsozialforum) auf diesem Blog wird es jedenfalls am Sonntag oder spätestens Montag geben.

Davos und Rio: Was wird eigentlich aus dem Weltsozialforum?

So richtig habe ich nie verstanden, warum das Weltsozialforum (WSF) so einfach die Funktion aufgegeben hat, als direkter Antipode und unmittelbare Alternative zum Davoser Weltwirtschaftsforum (WEF) zu agieren. Selten wurde es so schmerzlich vermisst wie in diesem Jahr – zumindest in den Medien. Bis auf ein paar Occupy-Aktivisten in den Iglus und die Vergabe des traditionellen Schmähpreises an ein paar Multis gibt es kaum etwas, was an Stimmen aus den globalisierungskritischen Bewegungen zu berichten wäre.

Natürlich weiß ich, dass das WSF in diesem Jahr als „Thematisches Sozialforum“ in Porto Alegre tagt, um einen Gegenentwurf zu dem kläglichen Verhandlungsstand in Vorbereitung auf Rio plus 20 auszuarbeiten. Natürlich ist das sinnvoll und wichtig. Aber macht es Sinn, das ausgerechnet parallel zum WEF zu tun, wenn dort über die kapitalistische Krise und die Auswege daraus diskutiert wird? Das Programm und der Verlauf der Diskussionen in Davos zeigen jedenfalls, dass die Green Economy, die auf dem WSF als Weg in den Grünen Kapitalismus verdammt wird, längst nicht das nächste hegemoniale Projekt der internationalen „Eliten“ ist, das viele in Porto Alegre darin sehen. Sie kommt ganz einfach so gut wie nicht vor. Viel ist dagegen die Rede von der wachsenden Gefahr sozialer Unruhen angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in immer mehr Teilen der Welt.

„Occupy Rio plus 20“ überschreiben zwei W&E-Autoren aus Frust ihren Überblicksartikel über die Green-Economy-Konzepte, die im Vorfeld von Rio im Juni diskutiert werden. Das lässt sich in mindestens zwei Richtungen verstehen. Die erste wäre: Vergesst Rio! Dieser Ruf wurde schon nach dem Klimagipfel in Kopenhagen laut. Dass dieses Jahr – trotz der thematischen Begrenzung – wieder über 10.000 Menschen nach Porto Alegre gekommen sind, lässt sich allerding kaum so interpretieren, dass ihnen der Verhandlungsprozess im Rahmen der Vereinten Nationen schlicht gleichgültig ist. Man kann den Ruf „Occupy Rio plus 20“ aber auch anders sehen, als Aufruf nämlich, eine Debatte zu besetzen, deren Ziel die Anpassung der (welt-)wirtschaftlichen Verhältnisse an die sozialen und ökologischen Imperative sein sollte. Das wäre in Davos ebenso angesagt wie in Rio.

27. Januar 2012

Neue Modelle? Altes FDI-Mantra neu aufgelegt

In ausländischen Direktinvestitionen (FDI) liegt die Zukunft des Arabischen Frühlings. Das jedenfalls verspricht eine Studie, die heute von der OECD und dem World Economic Forum veröffentlicht wurde. Doch die Verfasser predigen nicht einfach, mehr FDI ins Land zu locken. FDI in Nordafrika und dem Nahen Osten müssen diversifiziert werden – weg von der Öl- und Gasindustrie – hin in Bereiche, die arbeitsintensiver sind, so die Hauptthese. Trotz eines jahrzehntelangen Wachstums der FDI in Nordafrika und dem Nahen Osten – zwei Drittel fließen in den kapitalintensiven Hydrokarbon-Sektor – leidet die Region nach wie vor unter hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, bei denen die Rate in manchen Ländern 40% überschreitet.

Die Autoren der Studie argumentieren, dass die Politik der Anlockung von FDI gezielter werden müsse, was nicht grundsätzlich falsch ist. Sie weisen darauf hin, dass die Neuerrichtung von Betrieben mehr Beschäftigung schafft als Firmenzusammenschlüsse und –aufkäufe. Der positive Beschäftigungseffekt sei bei arbeitsintensiven Sektoren der verarbeitenden Industrie deutlich größer als im Rohstoffsektor. Sie beklagen, dass vorhandene Qualifikationen und der Bedarf der Industrie oft nicht zusammenpassen.

Das alles stimmt. Doch ist dies lediglich das alte FDI-Mantra neu aufgelegt. Denn gerade Länder wie Tunesien, in denen der Arabische Frühling seinen Ausgang nahm, waren schon vorher ausgebaute Produktionsplattformen ausländischer Unternehmen, z.B. der Textilindustrie. In ihnen produzierten Tauschende, vor allem Frauen, an den verlängerten Werkbänken Europas. Und doch änderte dies nichts an der Massenarbeitslosigkeit.

FDI können eine Rolle spielen, aber nur, wenn sie eingebettet sind in eine Entwicklungsstrategie, die das Primat auf die Entwicklung der Binnenwirtschaft legt. Einfach nur die Schleusen für ausländisches Kapital zu öffnen, wird die Probleme nicht lösen. Das zeigt aber auch, dass es nicht einfach darum gehen kann, neue Modelle am Reißbrett zu entwerfen. Entwicklung ist nur als eigenständiger Prozess denkbar. Ratschläge von außen – und kommen sie auch aus Davos – sind immer nur von begrenztem Wert.

Davos, 3. Tag: Grosse Transformation?

Selten war so viel von Veränderung die Rede – öffentlich. Doch hinter den Kulissen, wo Normalsterbliche keinen Zutritt haben, grassiert die Sorge um den Status quo. Was beherrscht die Diskussionen der Banker in diesem Jahr in Davos neben der Zukunft der Eurozone, fragte Gillian Tett im Blog der Financial Times. Ihre Antwort: „One answer is pay.“

„Hinter den Kulissen erzählen alle Top-Banker in diesem Jahr, dass sie sich nun in einer Welt zurechtfinden müssen, in der das Niveau ihrer Bezahlung stark gefallen ist.“ Um wie viel? „Einige sagen um 20-40% für mittlere Banker, wenn man die Gehälter nimmt (während die Bonus-Komponente weit mehr gefallen ist, weil ein höherer Anteil als Festgehalt bezahlt wird.) Andere schätzen, dass ihre Bezahlung in diesem Jahr um 50-80% niedriger sein wird als 2007. ‚Es hat eine große Transformation gegeben‘, so ein CEO. ‚Das Bild hat sich total gewandelt.‘” Die Klagen der Banker gehen freilich nicht so weit, dass sie enthüllen würden, wie viel in absoluten Zahlen sie immer noch bekommen. Denn wenn sie sagen würden, sie hätten jetzt nur noch 3 statt bisher 5 Mio. Dollar, erschiene das den meisten Leute immer noch als zu viel, gab ein Banker freimütig zu.

So lässt sich das Motto von der Großen Transformation freilich auch deuten. Da wird klar, dass es noch ein weiter Weg ist bis die Welt ihr nächstes „Economic Top Model“ hat, wie die Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbunds (ITUC), Sharan Burrow, in Anspielung auf ein Unter-Konferenzmotto („Shaping new models“) in einem Artikel für die Hufftington Post schrieb. Das soll nicht heißen, dass es nur Negatives aus Davos zu berichten gibt. Zum Beispiel kündigte gestern Bill Gates eine neue Großspende von 750 Mio. Dollar für den Globalen Fonds gegen HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria an. Das Geld wird dort dringend gebraucht, da viele Staaten ihre Finanzzusagen aufgrund der Finanzkrise reduziert haben oder die Mittel zu späte beim Fonds ankommen. „Dies sind harte wirtschaftliche Zeiten, doch das ist keine Entschuldigung, die Gelder für die Armen zu kürzen“, so Gates. Genau das findet jedoch statt.

So sind denn die meisten Positivmomente auf dem WEF weniger in der Praxis als auf der Verlautbarungsebene zu finden. Und dies betrifft auch nicht die Statements von Politikern und Wirtschaftsmanagern, sondern die Voten von Außenseitern. Erfrischend wieder einmal, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz in Davos den Mainstream herausfordert (z.B. >>> hier). Lesenswert auch, was der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, über den Rückbau der Globalisierung zu sagen hat (>>> hier). – Wenigstens über eine Frage herrscht in Davos offensichtlich ein annähernder Konsens: Das globale Finanzsystem ist heute nicht sicherer als beim Ausbruch der Finanzkrise vor drei Jahren. Aber Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zeichnen sich nicht ab.

26. Januar 2012

Davos, 2. Tag: Bold, bold, bold

Kühn, mutig und entschlossen („bold“) solle Europa gegen die Krise angehen. Man sage nie „nie“! Es kann immer noch schlimmer kommen. Auf Merkel folgt Cameron. In seiner Rede heute Morgen verwendete der britische Premierminister das Wort „bold“ zehnmal in fünf Minuten, zählte ein Beobachter mit. Zwar war seine Rhetorik zweifellos gewandter als die Merkels. Doch während Merkel dem Ruf der „schwäbischen Hausfrau“ alle Ehre machte und den Südeuropäern „sparen, sparen, sparen“ predigte, glänzte Cameron mit einem Maß an Wirtschaftsfreundlichkeit, das die Kontinentaleuropäer kaum mehr gewohnt sind, und hielt dafür den tosenden Applaus der anwesenden Wirtschaftslenker. Er wolle Großbritannien zum wirtschaftsfreundlichsten Standort in Europa machen, und Europa solle ihm dabei folgen.

Wie das? Als erstes feuerte Cameron eine Breitseite auf die Kommission, was in Brüssel keinen Gefallen finden dürfte. Mit der Überregulierung im Binnenmarkt müsse Schluss gemacht und unverzüglich mit einer Deregulierungsoffensive begonnen werden. Europa brauche endlich eine „Pro-Business-Agenda“. Der Vorschlag der Kommission zu einer Finanztransaktionssteuer (FTT) sei „verrückt“. Die Euroländer sollten die britische Bankenabgabe und die Stamp-Duty übernehmen, wenn sie den Finanzsektor an den Krisenkosten beteiligen wollten – eine deutliche Unterstützung für die Position des kleinen Koalitionspartners in der Berliner Regierung. Die Europäer sollten die Doha-Runde, die nicht funktioniert, hinter sich lassen und sich auf eine bilaterale Freihandelsagenda konzentrieren, usw. usf.…

Zwar schoss der britische Premier indirekt auch gegen Merkel, indem er sagte, in der Eurokrise gehe es „nicht nur um Haushaltsdefizite, sondern auch um Handelsdefizite“. Unter der Überschrift „Wettbewerbsfähigkeit“ würde Merkel ihm dabei theoretisch sogar Recht geben. Der eigentliche Dissens zwischen den beiden liegt wohl eher darin: Merkel will Europa deutscher machen, während sich Cameron Deutschland weniger deutsch wünscht. Im Klartext also: Kontinentaleuropa soll unter dem Deregulierungsmotto weiter den neoliberalen Weg der Einführung des anglo-amerikanischen Kapitalismus gehen. – Doch mit solchen RednerInnen verläuft das WEF gegenüber dem, was die Forumsleitung als Slogans vorgegeben hat, exakt in die Gegenrichtung: Die Probleme des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts können nicht mit dem Kapitalismus des 20. Jahrhunderts gelöst werden, so Klaus Schwab. Mit dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts aber erst Recht nicht.

25. Januar 2012

Merkel-Rede in Davos: Wie die Bourbonen

Der ökonomische Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, hat ein vernichtendes Urteil über die Eröffnungsrede von Angela Merkel in Davos gefällt. Hier ist es:


(Aus dem FT-Blog zu Davos)

Davos, 1. Tag: Demut und Bescheidenheit?

Mehr Demut und Bescheidenheit erhofft sich WEF-Gründer Klaus Schwab von dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum, vor allem und an erster Stelle von den Vertretern der Business Community. Diese seien die eindeutigen Gewinner der Globalisierung der letzten Jahre. Doch schon der erste Tag in Davos zeigt, dass diese Spezies, die dem Kapitalismus ein neues Design verpassen soll, hier nur schwer zu finden ist.

Wie der Nachrichtendienst Bloomberg herausfand, sind unter den WEF-TeilnehmerInnen 70 Milliardäre aus aller Welt. Darunter ist wie immer auch George Soros. Der gehört wie Warren Buffet wirklich zu denjenigen, die meinen, Leute seines Schlages sollten stärker besteuert werden. Aber unter den 70 reichsten Leuten auf dem Forum, die Bloomberg interviewten, war gerade mal ein halbes Dutzend der Meinung, dass die wachsende Ungleichheit der Einkommen – nach der Global Risks Study in diesem Jahr immerhin die größte Gefahr für die westlichen Gesellschaften – ein Thema sei, das ernsthaft angegangen werden müsste.

Diesen Eindruck vermittelten auch die beiden Forumsveranstaltungen, die ich heute Morgen über Video live verfolgt habe. Ein Forum des Time-Magazins über den „Kapitalismus in der Krise“ gab zwar der Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes (ITUC), Sharan Burrow, eine Plattform, um zu erklären, dass der Kapitalismus bei der Lösung wesentlicher sozialer Fragen versagt und die Business Community ihren „moralischen Kompass“ verloren habe. Dies aber nur, so scheint es, um einer erlesenen Schar von Davos-People eine Rechtfertigungsbühne zu bieten. Der Private-Equity-Manager David M. Rubinstein, bestritt glatt den Verlust dieses Kompasses und sagte, die Wirtschaft sei nicht darauf aus, Wohlstand und Jobs abzubauen, bewies damit freilich aber nur, wie wenig er von den Mechanismen verstanden hat, die zu immer mehr Ungleichheit führen. Selbiges gilt auch für jenen CEO, der sich im folgenden Forum darüber beklagte, dass diejenigen, die Arbeitsplätze schaffen, nämlich die Unternehmer, zu Unrecht für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden.

Auf dem Forum „The Global Business Context“ wurde die Ungleichheitsproblematik von keinem der sieben anwesenden CEOs auch nur einmal erwähnt. Stattdessen gefiel man sich in Lobpreisungen der in Mode gekommenen „Social Responsibility“ der Unternehmen oder in Plädoyers für die Notwendigkeit von mehr Deregulierung (so der Airbus-Chef). Ein anderer wies auf die Notwendigkeit hin, dem Mittelstand mehr Entfaltungsspielraum zu geben, und zitierte als Musterbeispiel dafür die USA, wo dieser gerade zerstört wurde. Wenn das so weitergeht: Armes Davos!

IWF/ILO: Warnungen an die Davos-People

Rechtzeitig zur Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos haben der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit düsteren Prognosen darauf aufmerksam gemacht, dass Wachstum und Jobs, zwei zentrale Ingredienzen des überkommenen kapitalistischen Modells, derzeit auf des Messers Schneide stehen. Der IWF korrigierte seine globale Wachstumserwartung für 2012 auf 3,3% (gegenüber noch 4% im letzten September-Outlook). Damit liegt er zwar immer noch um 0,7% über der Prognose der Vereinten Nationen (>>> W&E-Hintergrund Januar 2012). Doch die Situation ist deshalb so kritisch, weil im Epizentrum der gegenwärtigen Krise, in Europa, eine Rezession so gut wie sicher ist. Und eine weitere Eskalation der Finanzkrise in Europa würde auch den Rest der Welt in eine erneute Rezession stoßen, warnt neben der Weltbank jetzt auch der IWF.

Aus beschäftigungspolitischer Sicht hat die Weltwirtschaft die letzte Krise noch gar nicht hinter sich gelassen. Wie aus den gestern veröffentlichten Global Employment Trends der ILO hervorgeht, liegt die Arbeitslosigkeit weltweit immer noch um 27 Millionen über dem Niveau vor vier Jahren zu Beginn der globalen Finanzkrise. Insgesamt geht die ILO derzeit von 200 Millionen Arbeitslosen weltweit aus, wobei 900 Millionen Arbeitskräfte hinzukommen, die unterhalb der Armutsgrenze von 2 Dollar am Tag leben. Die globale Jobkrise hält also unvermindert an und betrifft mindestens 1,1 Milliarden Menschen auf der Welt, wie ILO-Generaldirektor Juan Somavia hervorhob. Je länger diese Situation fortbesteht, umso mehr steht die Schaffung nachhaltigen Wachstums und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaften in Frage.

Nicht zu übersehen ist, dass neben der ILO nunmehr auch der IWF wirtschaftspolitische Ratschläge bereithält, die den tonangebenden Kräften in der Eurozone nicht gefallen können. So plädiert der Fonds für eine nuancierte Handhabung der fiskalischen Konsolidierung, die vor allem dort verlangsamt werden sollte, etwa in Deutschland, wo fiskalische Spielräume noch nicht ausgeschöpft wurden. Eine zu forsche Austeritätspolitik, so IWF-Chefökonom Blanchard bei der Vorstellung der neuesten Zahlen, „tötet das Wachstum“. Beim Abbau der Schulden in Europa müsse wesentlich langfristiger gedacht werden. Dabei erinnerte Blanchard daran, dass es gut zwei Jahrzehnte dauerte, bis der relativ hohe Schuldenstand, mit dem die Staaten aus dem Zweiten Weltkrieg herauskamen, zurückgeführt war. Auch heute müsse in solchen zeitlichen Dimensionen gedacht werden.

Man darf gespannt sein, wie viel der Ratschläge des IWF bei der deutschen Kanzlerin angekommen sein werden, wenn sie heute in Davos ihr Eröffnungsstatement hält. Neben einer differenzierteren Betrachtung der Austeritätspolitik plädiert der IWF für eine Ausweitung des Europäischen Rettungsschirms ESM, eine weitere Lockerung der Geldpolitik durch die EZB und schließt auch die Einführung von Eurobonds nicht mehr aus. Notwendig sei die „Teilung des fiskalischen Risikos unter den Mitgliedern der Eurozone“. Das wäre ein Ansatz zu jener europäischen Solidarität, die die Bundesregierung bis heute strikt verweigert.

23. Januar 2012

Jobvermittler Niebel: Die Fabel vom schlanken Staat

Gastkommentar von Ute Koczy MdB

Vom schlanken Staat, wie ihn die FDP immer gefordert hat, ist nichts übrig geblieben. Im Gegenteil, Minister Niebel bläht die Verwaltungsstrukturen des BMZ auf. Statt die unterbesetzten Länder- und Fachreferate zu verstärken, setzt er auf eine überflüssige Abteilung "Planung und Kommunikation" und schafft Luftreferate. Es ist richtig, dass das Entwicklungsministerium mehr Personal erhält. Das BMZ in seiner Funktion als Anwalt der Armen, als Agenda-Setter für globale Gerechtigkeit und Klimaschutz braucht Verstärkung. Durch die Schaffung von über 181 Planstellen und 21 Stellen wird das Personal im BMZ deutlich aufgestockt, bislang ausgeliehene Kräfte aus der ehemaligen GTZ können endlich durch eigene Leute aus dem Haus ersetzt oder integriert werden.

Auf diese einmalige Chance wurde lange gewartet. Deshalb ist das Entsetzen groß, dass Minister Niebel nun an entscheidenden Stellen nicht auf entwicklungspolitische Kompetenz setzt, sondern auf Parteinähe. Durch diese Vetternwirtschaft vergibt Minister Niebel die Chance, das BMZ inhaltlich und konzeptionell zu stärken. Vielmehr verkommt es zu einem Auffangbecken für eine Partei im Niedergang und dient augenscheinlich als Rentensicherung für altgediente Parteifreunde.

Personelle Wechsel an der Spitze eines Ministeriums sind nach einer Regierungsübernahme üblich. Ein Minister will und soll auch mit einer loyalen Führungsebene arbeiten. Doch die Dreistigkeit, mit der die liberale Führung im BMZ vorgeht, ist beispiellos und wird zunehmend skandalöser. Das Maß ist rigoros überschritten: erstens durch die hohe Anzahl von FDP-nahen Personen, die ohne große entwicklungspolitische Vorkenntnisse auch auf unteren Ebenen versorgt werden; zweitens durch die Schaffung von neuen Abteilungen, Unterabteilungen und Referaten für Parteifreunde mit geringer oder ungenügender Qualifikation und obendrein ohne ein seriöses Auswahlverfahren.

Da wundert es nicht, dass die Stimmung im Haus als vergiftet beschrieben wird.
Drittens steht zu befürchten, dass auch Leitungsstellen vorrangig mit FDP-FreundInnen besetzt werden. Vier von fünf Abteilungsleitern, sowie drei bis vier der Unterabteilungsleiter sind FDP-Mitglieder oder FDP-nah. Zuletzt wurde die Leitung der neuen Servicestelle für kommunales und bürgerschaftliches Engagement bekannt gegeben, auch hier kommt wieder eine FDP-lerin zum Zug. Da ist es kein Wunder, dass Niebel sich in der öffentlichen Wahrnehmung zum Jobvermittler der FDP entwickelt.

Wichtige Reformschritte in der Entwicklungszusammenarbeit gehen in Niebels Personalsumpf und der Selbstversorgungsmentalität der FDP unter. Diese Kritik wurde aus unterschiedlichen Quellen öffentlich. Der Personalrat kritisiert in seinem Halbjahresbericht, dass keine Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Neueinstellung von Führungspersonal mehr bestehen. Er lehnt die neue Abteilung "Planung und Kommunikation" ab und befürchtet sogar, mit dieser Umstrukturierung entstehe die neue Kampa für den Wahlkampf 2013. Auch der Koalitionspartner ist über die liberale Politik verärgert. Die Obfrau der CDU im Entwicklungsausschuss, Sibylle Pfeiffer, schrieb in einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel, dass die Personalentscheidungen Niebels weder mit der Union abgesprochen noch in deren Interesse seien. In den Sturm der Entrüstung stimmt inzwischen auch die Zivilgesellschaft ein. Der Dachverband der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen VENRO ist brüskiert, dass das Versprechen, die Zivilgesellschaft bei der Konzeption für die neue Servicestelle Engagement Global eng einzubeziehen, gebrochen wurde.

* Die Veränderungen im BMZ unter Niebel stellt Ludger Reuke in neuen Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung dar >>> hier.

22. Januar 2012

Davos: Sorglos und selbstvergessen durch den Schnee

Das alljährliche Weltwirtschaftsforum in Davos gilt als das wohl aufgeklärteste und weitsichtigste Kapitalistentreffen der Welt. Doch dieser Ruf besteht, wenn überhaupt, zu Unrecht. Blicken wir zurück ins letzte Jahr. Als größte Überraschung erwischte die versammelten Konzern- und Bankchefs und ihre Claqueure der sog. Arabische Frühling. Er war in dem monatelang und aufwendig vorbereiteten Programm gar nicht vorgesehen. Die Stimmung der Finanzjongleure hätte angesichts der wieder rund laufenden Geschäfte kaum besser und sorgloser sein können. Doch schon knapp ein halbes Jahr später erschütterte ein neuerliches Beben die globalen Finanzmärkte und machte klar, dass die Krise noch immer nicht zu Ende war. Gründlicher könnten Prognosen und Stimmungen nicht danebenliegen.

Und in diesem Jahr? Das Motto des Treffens, das am Mittwoch beginnt, ist aalglatt wie immer: „The Great Transformation: Shaping New Models“ („Die große Transformation: Gestaltung neuer Modelle“) und könnte sicher auch im nächsten Jahr noch Verwendung finden. Die Vorbereitungslektüre mag in diesem Jahr zu etwas mehr Nachdenklichkeit anregen: Als größte Gefahr für die Wirtschaft hat der Global Risks Report 2012 die ständig zunehmende Ungleichheit identifiziert. Doch schon jetzt steht fest, dass auch das diesjährige WEF an dieser Ungleichheit nichts, aber auch gar nichts ändern wird. In einem Call to Action warnt die Global Issues Group des Forums, der die Führer der bedeutendsten internationalen Organisationen angehören (von Lagarde bis Gurría, von Somavia bis Zoellick und Lamy), davor, durch übertriebene Sparmaßnahmen Wachstum und Arbeitsplätze zu gefährden. Doch auch hier wird man von Davos keine Trendwende erwarten können.

Dazu „passt“, dass ausgerechnet die Chefideologin der schwäbischen Hausfrauenphilosophie, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, am Mittwoch Abend die Eröffnungsrede des Forums halten wird. Merkel hat in Davos schon öfters Dinge verkündet, die binnen kurzer Zeit Schall und Rauch waren, etwa ihr Plädoyer für eine Globale Charta der nachhaltigen Entwicklung und für einen Weltwirtschaftlichen Sicherheitsrat, von dem heute selbst im Kanzleramt kaum jemand noch was weiß. Da mag der Gründer und Chef des WEF, Klaus Schwab, sogar kapitalismuskritische Töne anschlagen: „Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form passt nicht länger zu der Welt von heute. Wir haben versäumt, die Lehren aus der Finanzkrise von 2009 zu ziehen. Eine globale Transformation ist dringend notwendig und sie muss mit der Wiederherstellung eines globalen Sinns für soziale Verantwortung beginnen“, so Schwab. Doch das Einzige, was einem dazu einfällt, ist der Satz: Das wäre doch wirklich zu schön, um wahr zu sein!

18. Januar 2012

Agrarspekulation: NGO-Attacke auf Deutsche Bank

Drei NGOs – Oxfam, Misereor und WEED – werfen der Deutschen Bank vor, mitverantwortlich für Preisexplosionen auf den Weltagrarmärkten zu sein, die die Lebensmittel für in Armut lebende Menschen unbezahlbar machen. Die Nichtregierungsorganisationen fordern den Finanzriesen auf, bis Ende Januar 2012 den Ausstieg aus der Spekulation mit Nahrungsmitteln zu beschließen und schnellstmöglich umzusetzen. Die Deutsche Bank ist global die Nummer 1 bei börsengehandelten Rohstoffprodukten (ETPs: Exchange Traded Products) im Agrarbereich.

Die Entwicklung der Nahrungsmittelpreise, insbesondere die starken Preisschwankungen, lassen sich nicht nur mit den Ernteerträgen, der Nachfrage und den Lagerbeständen erklären. Zahlreichen Experten zufolge, darunter die Weltbank, spielten die Investment- bzw. Indexfonds der Deutschen Bank und anderer Finanzspekulanten bereits eine Schlüsselrolle bei der Preisexplosion bei Nahrungsmitteln im Jahr 2007/2008. Von Januar 2005 bis Juni 2008 waren die Weizenpreise um 127% gestiegen, und die Maispreise hatten sich verdreifacht. 100 Millionen Menschen konnten sich infolge der Preisexplosion nicht mehr ausreichend Nahrungsmittel leisten und mussten hungern.

Recherchen im Auftrag von Oxfam, Misereor und WEED haben ergeben, dass aus 45 Rohstofffonds der Deutschen Bank bis zum Jahresende 2010 knapp 5 Mrd. US-Dollar in Agrarrohstofffonds und knapp 3,6 Mrd. US-Dollar in Energiefonds investiert worden sind. Diese Fonds wetten auf steigende Agrar- bzw. Ölpreise und tragen damit zu Preisspitzen bei Nahrungsmitteln bei. Misereor-Hauptgeschäftsführer Josef Sayer fordert deshalb, die Deutsche Bank dürfe nicht nur gegenüber ihren Aktionären, sondern müsse ihre Verantwortung in einer globalisierten Welt auch gegenüber den Ärmsten wahrnehmen und mit dem Ausstieg aus der Nahrungsmittelspekulation ein Zeichen setzen. Markus Henn, Finanzexperte bei WEED, verweist auf den Zusammenhang zwischen steigenden Ölpreisen und steigenden Nahrungsmittelpreisen. Steige der Ölpreis, so steige auch der Preis von Nahrungsmitteln.

Oxfam, Misereor und WEED fordern die Bundesregierung auf, im Kontext der EU-Finanzmarktreform für mehr Transparenz auf den Warenterminmärkten zu sorgen und die maßlose Spekulation durch Höchstgrenzen für den Handel mit Termingeschäften einzudämmen.

13. Januar 2012

FTT in der Eurozone: Widerstand von aussen und innen

Dass sich zwischen Frankreich bzw. der Eurozone und Großbritannien im Kampf um die Finanztransaktionssteuer (FTT) ein neuer Zusammenprall abzeichnet, haben die meisten Zeitgenossen inzwischen mitbekommen. Jetzt kündigt sich aber an, dass auch innerhalb der Eurozone dem Projekt neue Knüppel in den Weg geworfen werden könnten. Der jüngste Ärgernis-Kandidat: Luxemburg. Während sich Premierminister Jean-Claude Juncker als Eurogruppenchef in der Frage diplomatisch-zurückhaltend gibt, hat der Luxemburger Finanzminister Luc Frieden (Junckers inoffizieller Kronprinz; s. Abb.) jetzt zum zweiten Mal eine Breitseite gegen eine FTT in der Eurozone abgefeuert. Ausgerechnet die Britische Handelskammer in Luxemburg wählte Frieden als Plattform, um gebetsmühlenartig so ziemlich alle altbekannten und längst wiederlegten „Argumente“ gegen die FTT erneut vorzutragen.

Der Kern des Einwands: Die Einführung einer Steuer in der Eurozone ist für Frieden „ein riskantes Unterfangen“, wie das Luxemburger Wort gestern berichtete, da dann auch Geschäfte aus Luxemburg mit seinem überdurchschnittlich großen Finanzplatz nach London (oder auch nach New York oder Hongkong) abwandern würden. Dass Frieden auch New York oder Hongkong nannte, zeigt wieder einmal, wie vorgeschoben der Hinweis auf London ist und dass die Gegner der FTT diese am liebsten überhaupt nicht haben möchten. Darüber hinaus wird deutlich, wie sich die Gegner der FTT gegenseitig die Bälle zuspielen. Auch Londons Premierminister Cameron will die FTT in der EU ja nur, wenn die ganze Welt mitmacht, also gar nicht.

Der Korrektheit halber muss man sagen, dass die Luxemburger Regierung ihre Position zur FTT noch nicht endgültig festgelegt hat. Doch wie und wo ihr Finanzminister jetzt das Terrain sondiert hat, lässt nichts Gutes ahnen. Und schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass die Interessen der Finanzindustrie bestimmen, wohin die Reise der Luxemburger Politiker geht.

11. Januar 2012

London ./. Eurozone: Ringen um die Tobin-Steuer

Dagegen war man schon immer. Während die deutsche FDP der Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT) nur zustimmen will, wenn die Briten mitmachen (so sagen Rösler & Co. jedenfalls), ist die Regierung in London nur dazu bereit, wenn die ganze Welt mitmacht (so sagt jedenfalls Cameron). In Wirklichkeit wollen sie aber eher überhaupt keine Besteuerung des Finanzsektors, und so nimmt es nicht Wunder, dass jetzt, wo sich die Entscheidung zuspitzt, fast täglich neue Studien und Stellungnahmen lanciert werden, die im Falle der Einführung einer FTT das Schlimmste für die einführenden Länder, ihr Wachstum und ihre Beschäftigung und vor allem für ihre Finanzplätze prophezeien.

Hinter diesem durchsichtigen ideologischen Schlagabtausch verbarg sich im Falle der britischen Regierung freilich bislang das Kalkül, im Zweifelsfalle werde der Finanzplatz London direkt und indirekt profitieren, wenn die FTT beispielsweise in der Eurozone eingeführt wird. Dies deshalb, weil das Kapital – bekanntlich ein scheues Reh – seine diesbezüglichen Geschäfte in die City of London und anderswohin verlegen werde, wo seine „Freiheit“ noch nicht eingeschränkt ist. Inzwischen schwant den Protagonisten Londons allerdings, dass dieses Kalkül, also die Aneignung der Vorteile der Kapitalflucht, nicht so ohne weiteres aufgehen wird. So sehen sie sich „einer konstanten Attacke Brüssels“ ausgesetzt. Weitere Zusammenstöße der Art, wie wir sie auf dem letzten EU-Gipfel erlebt haben, sind daher vorprogrammiert.

Inzwischen haben die Brüsseler Experten nämlich nach Wegen gesucht, wie der erwarteten Kapitalflucht der Boden entzogen werden kann. In der letzten Woche zitierte die Financial Times einen „Diplomaten der Eurozone“ mit dem Satz: „Es ist klar, dass eine Regelung auf der Ebene der Eurozone, so sie denn notwendig würde, auf eine Weise gestaltet werden würde, die keine unfairen Vorteile für London mit sich bringen würde, wenn dieses nicht mitmacht.“ Schon im FTT-Vorschlag der Kommission war das sog. Sitzland-Prinzip enthalten, wonach Finanzgeschäfte dort zu besteuern sind, wo sich der Hauptsitz des Akteurs befindet. Die Deutsche Bank könnte also alle möglichen Finanzkontrakte in London handeln – die darauf fällige Steuer müsste in Deutschland entrichtet werden. Auch Derivate könnten – ungeachtet dessen, wo sie gehandelt werden – in der Eurozone besteuert werden, wenn sie in Euro denominiert sind. Dann müsste nicht einmal der Firmensitz in einem Euroland liegen. – Die täglich zahlreicher werdenden Anhänger der FTT sollten sich durch das aktuelle Säbelrasseln also keinesfalls ins Bockshorn jagen lassen. Politischer Unwille und ökonomischen Interessen sind das eine – Machbarkeit und Praktikabilität das andere. Wie heißt es noch im Volksmund? Wo eine Wille ist, ist auch ein Weg.

5. Januar 2012

Welcome back in 2012!

Welcome back in 2012! Lapidar meldet die Financial Times in dieser Woche unter Berufung auf die US-Regulierungsbehörde Commodity Futures Trading Commission (CFTC), dass die Wetten der Hedgefonds gegen den Euro zum Jahresende ein neues Rekordhoch erreicht haben. In der letzten Woche von 2011 lag die Zahl der offenen Kontrakte, mit denen Anleger auf fallende Kurse spekulieren, bei 172.454; dem standen nur 45.485 Kontrakte gegenüber, bei denen auf steigende Kurse gesetzt wurde. Hintergrund der neuen Spekulationswelle ist offensichtlich die rückläufige Kursentwicklung des Euro im November und Dezember. Dennoch ist der Euro trotz der Schuldenkrise im Euroraum erstaunlich stabil und liegt zu Jahresbeginn nur rund 5% unter dem Wert von vor zwei Jahren.

Dass auch massivste spekulative Angriffe den Euro bislang nicht in die Knie gezwungen haben, ist kein Paradoxon, sondern verweist darauf, dass ein Währungsblock in instabilem Umfeld besser bestehen kann als einzelne Länder. Dass der konzertierte Angriff von Privatinvestoren und Rating-Agenturen auf die schwächeren Glieder der Eurozone wesentlich besser „funktioniert“, kann als Beleg hierfür gelten. Gerade deshalb wäre es höchste Zeit, die Angriffsschneisen der Spekulantenherde dicht zu machen. Das geht nur, wenn gemeinsame Anleihen („Eurobonds“) aufgelegt oder die Europäische Zentralbank ihrer Rolle als lender of last resort gerecht wird und eine dauerhafte Bestandsgarantie für die Schulden der GIPSI-Ökonomien gibt, wie sie seit neuestem genannt werden (für: Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland).

Das klingt zwar etwas netter als das bisherige Kürzel der Finanzmärkte (PIIGS). Leider war aber an den Sonntagsreden der Merkel, Sarkozy oder Rajoy zwischen den Jahren ganz und gar nicht zu erkennen, dass die Weihnachtspause genutzt worden wäre, um über eine neue europäische Solidarität nachzudenken. Vielmehr hörten sich die Herrschaften so an, als wollten sie das Publikum auf neue Runden der Austerität und der Opfer einschwören. (Besonders perfide wieder einmal Merkel mit dem Duktus vor geschönten Zahlen: Die Deutschen sind so „erfolgreich“, weil sie so viel „geleistet“, sprich: Sozialabbau hingenommen, haben.) Damit wollen sie sicherstellen, dass wir im neuen Jahre noch mehr von dem Alten bekommen, das uns das alte Jahr schon beschert hat. Entsprechend weisen die meisten Indikatoren wieder einmal nach unten: die sich abzeichnende Rezession in der Eurozone mit der zunehmenden Spaltung in Nord und Süd, das Übergreifen dieser Tendenzen auf den Rest der Welt, sei es durch die abnehmende Importfähigkeit Europas, sei es durch den Rückzug des Kapitals aus anderen Weltgegenden, um zu Hause die Löcher zu stopfen – Europa als Albtraum für den Rest der Welt.

Doch es gibt auch Gegentendenzen: Das zentrale globale Thema des Jahres 2012 wird die Ungleichheit werden, schreibt Moisés Naím von der Carnegie Endowment-Stiftung in Washington in seinem Jahresausblick. Das Thema ist zwar nicht neu; neu ist aber schon, dass es nicht mehr aus der Debatte zu kriegen ist. Vielleicht ist Occupy ja doch mehr als ein vorrübergehendes Seufzen der 99%.