WSF: Himmlische und irdische Paradiese
Gastblog von Peter Niggli
Die
arabischen Revolutionen standen im Zentrum des Weltsozialforums in Tunis.
Hunderte von Basisorganisationen, Gewerkschaften, Frauenbewegungen,
Menschenrechtsorganisationen und kulturellen Vereinen nahmen am Forum teil. Die
arabischen Organisationen, Bewegungen und Vereine kamen aus Marokko,
Mauretanien, Libyen, Ägypten, Syrien, dem Libanon und Irak. Die vor mehr als 40
Jahren durch Marokko aus der Westsahara nach Algerien vertriebenen Saharouis
waren ebenso vertreten wie palästinensische Organisationen aus den besetzten
Gebieten oder nichtarabische Minderheiten wie die Kurden oder die Berber aus
Djerba.
Das
Weltsozialforum machte diejenigen arabischen Regierungen nervös, die ihren
eigenen Frühling vorderhand unterdrücken können. Algeriens Grenzpolizei
verwehrte anfangs Woche rund 100 unabhängigen GewerkschafterInnen die Ausreise
nach Tunesien. Diese kehrten jedoch nicht heim, sondern ließen sich beim
Grenzposten nieder und harrten dort aus Protest bis zum Ende des Sozialforums
am Samstagabend aus. Die Saharaouis durften hingegen nach Tunis ausreisen, denn
sie sind für Algerien kein innenpolitisches Problem, sondern ein wertvolles außenpolitisches
Pfand gegen Marokko.
Die
Begegnungen und Diskussionen rund ums Weltsozialforum werfen, in aller
Vorläufigkeit, ein Schlaglicht auf den Stand der Umwälzungen in Tunesien und
teilweise auch in Ägypten. Der Enthusiasmus und das Gefühl, das eigene
Schicksal durch kollektive Aktion gestalten zu können, wirken auch zwei Jahre nach
dem Sturz Ben Alis nach. Unsere GesprächspartnerInnen glauben, die aktuellen
und künftigen Regierungen, die politische Ausrichtung des Landes, seine
wirtschaftliche und soziale Entwicklung stark beeinflussen zu können und
engagieren sich weiterhin dafür. Politische Wachheit und Neugier begegnen uns
überall in der Stadt.
Der
Sturz des Diktators hat beachtliche politische Freiheiten und Spielräume
eröffnet. Parteien sind im Dutzend, zivilgesellschaftliche Organisationen zu
Tausenden neu entstanden und im ganzen Land aktiv. Die großen Publikumsmedien
packen die 2011 neugewählte Regierung und die Arbeit der verfassunggebenden
Versammlung sehr hart an. Die öffentliche Debatte kreist um die Kluft zwischen
den Versprechen der Revolution – travail, dignité, liberté – und dem
enttäuschend geringen Grad ihrer Erfüllung.
Die
Revolution wurde von zwei Motiven getragen: Die Willkür des tunesischen und
ägyptischen Polizeistaates wirkte in alle Bereiche des täglichen Lebens hinein
– sich davon zu befreien, ein Leben in Würde zu gewinnen und den
postrevolutionären Staat auf politische Freiheit und Demokratie zu gründen, war
das eine Motiv, das den arabischen Frühling beseelte. Das zweite war, sich aus
der sozialen Misere, dem Klüngel- und Rentierkapitalismus des herrschenden
Clans, der lähmenden Arbeitslosigkeit von Millionen zu befreien – eine
Volkswirtschaft zu entwickeln, die dem Volk Arbeit gibt. Davon kann bislang
keine Rede sein. Tunesiens Wirtschaft, vor allem der Tourismus, geriet in
Krise. Und der politische Streit wird von der Gestaltung des künftigen Staats
beherrscht, während die Auseinandersetzung über die soziale und
wirtschaftspolitische Zukunft noch kaum begonnen hat. Hier entstand ein
Frustrationspotential, das den künftigen Verlauf negativ beeinflussen kann.
Schon kommen Stimmen auf, dass es diesbezüglich unter Ben Ali, Mubarak und
Konsorten besser gewesen sei.
Alles
beherrschend ist schließlich der Verdacht, dass das islamistische politische
Spektrum die neuen politischen Spielräume zur Monopolisierung der Macht und zur
eigentlichen Konterrevolution missbrauchen werde. Die Vertreter der führenden
islamistischen Partei Tunesiens, der Ennahda, stellen heute die Regierung und
versicherten uns, sie hätten nicht Jahre in den Gefängnissen Ben Alis geschmachtet,
um politische Freiheit und Menschenrechte abzuschaffen. Sie arbeiteten auf die
Verabschiedung einer neuen Verfassung im Konsens mit den oppositionellen
Kräften und auf freie Wahlen hin.
Aber
die Zeichen stehen anders: Ennahda-Vertreter stehen hinter in den „Ligen zur
Verteidigung der Revolution“, die als Parteimilizen wirken. Sie brachten in die
Verfassungsdiskussion Fragen ein wie die „Komplementarität“ von Frau und Mann,
statt der Gleichheit der Geschlechter, die „kleine“ Beschneidung des Geschlechtsorgans
der Frauen (in Tunesien keine „Tradition“) oder die Sharia als Grundlage des
neuen Staats. Die Ennahda will die Pressefreiheit in den Griff kriegen und
wehrt sich gegen eine wirkliche Unabhängigkeit der Justiz. Ein großer Teil der
tunesischen Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre lehnten dies als
Versuch ab, einen theokratischen Staat zu gründen. Ein großer Teil der
Öffentlichkeit glaubt, dass Katar – wo die Schweiz bald eine neue Botschaft
eröffnen will – die Ennahda und andere noch radikalere islamistische Strömungen
massiv finanziere.
Der
letzte Entwurf der neuen Verfassung enthält in vielen dieser umstrittenen
Fragen zweideutige Formulierungen, die durch den Sieger der auf spätestens Ende
Jahr versprochenen Wahlen je nach Gutdünken interpretiert werden könnten. Alle
erwarten von den Wahlen die Entscheidung – gegen die theokratische
Konterrevolution, für linke und moderate politische Parteien. Die ungelöste
soziale Frage, so das Kalkül unserer Freunde, werde der Ennahda negativ
angerechnet werden und garantiere fast ihre Niederlage. Wieso, fragte ich einen
unserer Gesprächspartner, sollte die Ennahda freie Wahlen abhalten, wenn sie
sie zu verlieren droht? Genau das, antworteten sie, sei die eigentliche
politische Gefahr. An den Wahlen selber könne sie kaum mehr betrügen, aber im
Vorfeld, solange sie noch wesentliche Staatsapparate kontrolliert, werde sie
alles versuchen, sich einen günstigen Ausgang zu sichern.
Die
Perspektive ist allen bewusst, mit denen wir zu tun haben. Sie glauben, dagegen
die Schichten mobilisieren zu können, die an den ungelösten sozialen Fragen
leiden. Wie soll eine Partei, die obsessiv mit ihrer unterdrückten Sexualität
beschäftigt ist, fragte ein Gesprächspartner, soziale und wirtschaftspolitische
Probleme kompetent anpacken? Hoffen wir, dass die TunesierInnen sich nicht fürs
himmlische Paradies, sondern für ein bisschen Paradies im irdischen Leben
entscheiden.
Peter Niggli ist
Geschäftsleiter der Schweizer NGO-Arbeitsgemeinschaft alliance sud. Seinen
Beitrag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung aus dem Tunis-Blog der alliance sud.
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