19. September 2016

Migration: Wessen Krise?

Gastblog von Gabriele Köhler*)


Man redet und schreibt in deutschen Medien, nicht nur wegen des heutigen Fluchtgipfels der Vereinten Nationen, viel über die Flüchtlingskrise. Und in der Tat ist es eine Herausforderung, wenn Jobcenter und Behörden, kleinere Kommunen, oder Arztpraxen jetzt mehr Menschen zu betreuen haben als vor zwei Jahren. In der Tat ist es ein Problem, mit Vorstellungen konfrontiert zu werden, nach denen Frauen nicht gleichberechtigt wären, oder die homophob oder antisemitisch sind. In der Tat können sich Menschen, die ökonomisch und sozial prekär leben, weil ihre Jobs oder ihre Rentenansprüche nicht gesichert sind oder sie mit dem Hartz-IV-Minimum auskommen müssen, verunsichert fühlen, wenn jetzt eine neue Gruppe von Menschen in unsicheren Umständen in ihre Umgebung zieht.  Diese nachvollziehbaren Ängste, Vorbehalte, Sorgen müssen offen, mit Empathie, aber unemotional aufgegriffen werden, und mit Fakten diskutiert werden.

Für diese vielschichtigen Herausforderungen und neuen Aufgaben braucht es Engagement und vielerlei neue Stellen. Sozialausgaben in Bund und in Ländern müssen großzügig aufgestockt werden, was nun sehr zögerlich geschieht. Für ein Land wie Deutschland, das einen Haushaltsüberschuss hat, ist das ökonomisch objektiv überhaupt kein Problem, wenn man es nur subjektiv will, zu Solidarität bereit ist und es schafft, vom fiskalischen Austeritätswahn abzurücken. Auch sozial ist die Aufnahme von Menschen auf der Flucht keine Krise, insofern als es in Deutschland viele gut ausgebildete Expertinnen und Experten in Bildungs- und Ausbildungsberufen, im Gesundheitswesen, in der Therapie, in den Medien gibt, und zugleich eine lange und bewundernswerte Tradition des Ehrenamts.  Die Flüchtingskrise wird von daher völlig zu Unrecht als eine Krise für Deutschland stilisiert.

Es handelt sich aber natürlich sehr wohl um eine Krise – nämlich für diejenigen Menschen, die keine andere Lösung für sich und ihre Familie sehen, als ihr Heimatland zu verlassen. Das ist, weil sie dort Krieg und bewaffnetem Konflikt, Verfolgung, Folter, Ausgrenzung, ausgeliefert  sind, oder weil Armut und die Folgen des Klimawandels direkt oder indirekt ihre Einkommensmöglichkeiten ausgehebelt haben.

Wir wissen es aus den Medien: 65 Millionen Menschen sind derzeit aus solchen Gründen auf der Flucht. Etwa 40 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge im eigenen Land. 20 Millionen Menschen sind in Anrainerländer oder auch weiter weg geflohen. Etwa die Hälfte sind Kinder, von denen viele noch dazu ohne Eltern oder Verwandte zurechtkommen müssen. Keine und keiner flieht nur so aus Spaß oder Abenteuerlust.

Es handelt sich auch um eine Krise für arme Länder: Fast 90% der Flüchtlinge leben in einkommensschwachen Ländern. Fünf arme Ländern beherbergen große Flüchtlingsgruppen, und das zum Teil seit Jahrzehnten: Pakistan, der Libanon, Iran, Äthiopien, und Jordanien. In Nepal, einem der ärmsten Länder der Welt, leben seit 20 Jahren Flüchtlinge aus Bhutan; Dadaab, eines der größten Flüchtlingslager der Welt, ist in Kenya. In der Türkei leben derzeit 2.5 Millionen Flüchtlinge. Die Solidarität, die der UN-Generalsekretärskandidat und frühere Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres  seit Jahren anmahnt, muss bei den Flüchtenden sein.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte trifft sich die UN-Generalversammlung  nun zu einem  Gipfel zur Lage von Flüchtenden und Migrantinnen und Migranten. Karl-Heinz Meyer-Braun von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen hat zu Recht gewarnt: Es  besteht die Gefahr, dass die Weltgemeinschaft die Lösung der Flüchtlingskrise einfach auf diese – auch nur – eintägige Konferenz in New York abwälzt, um dann den Vereinten Nationen den schwarzen Peter zuzuschieben, wenn weiterhin zu wenig geschieht.

Es besteht aber – vielleicht wider besseres Wissen – immer noch die Hoffnung, dass UN-Mitgliedsländer wachgerüttelt werden und sich ihrer Versprechen erinnern. Dazu gehören das  Recht auf Asyl, das seit der Menschenrechtserklärung von 1948  verpflichtend ist, die Genfer Flüchtlingskonvention, aber auch neuere Vereinbarungen, wie die Kinderrechtskonvention, die ILO-Empfehlung zur universellen sozialen Grundsicherung (R202 von 2012) und die Nachhaltigkeitsagenda, die genau  vor einem Jahr versprach, “to empower refugees and migrants” (Präambel, Para 23).

*) Gabriele Köhler ist DGVN-Vorstandsmitgleid und Mitglied im UNICEF Komitee Deutschland. Ihr Kommentar erschien zuerst auf der Website der DGVN.

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